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76 Teil I: Grundlegung
das offenbar menschliche BedĂŒrfnis, von Zeit zu Zeit das Dasein zu zerreiĂen und
in die Luft zu schleudern, sehend, wo es bleibe. Dieses BedĂŒrfnis nach âmetaphy-
sischemâ Krach, wenn der Ausdruck erlaubt ist, hĂ€uft sich in Friedenszeiten als unbe-
friedigender Rest an. Ich vermag darin in FĂ€llen, wo weit und breit keine UnterdrĂŒ-
ckung, keine wirtschaftliche Verzweiflung, sondern rings nur Gedeihen vorhanden
war, nichts zu sehen als eine Revolution der Seele gegen die Ordnung ; in manchen
Zeiten fĂŒhrt sie zu religiösen Erhebungen, in anderen zu kriegerischen. (GW 8, 1090)
ZunĂ€chst ĂŒberrascht hier Musils provokante Deutung des Ersten Weltkriegs,
die â aus historisch-soziologischer Perspektive betrachtet â insbesondere in
ihrer völligen Ausblendung der zu Kriegsbeginn durchaus vorhandenen politi-
schen und ökonomischen Spannungen innerhalb der sowie auch zwischen den
beteiligten Staaten31 höchst problematisch anmutet.32 Als Grund des Kriegs-
ausbruchs nennt er anstelle konkreter Ă€uĂerer âUmstĂ€ndeâ, die er in seiner
Theorie selber eingefordert hat, eine angeblich transhistorische Erscheinung,
nĂ€mlich âdas periodische Zusammenbrechen aller Ideologien. Sie befinden
sich stets in einem MiĂverhĂ€ltnis zum Leben, und dieses befreit sich in wie-
derkehrenden Krisen von ihnen wie wachsende Weichtiere von ihren zu eng
gewordenen Panzern.â (GW 8, 1090) Die gedankliche Analogie zwischen
historischen und anthropologischen Kategorien (âmenschliches BedĂŒrfnisâ)
bekommt an dieser Stelle eine bedenklich naturalisierende Schlagseite : âIch
glaube, daĂ der Krieg ausbrach wie eine Krankheit an diesem Gesellschafts-
körperâ (GW 8, 1088). TatsĂ€chlich argumentiert Musil hier latent ontologi-
sierend, wenngleich er seine Gedankenfigur immerhin als politik- und damit
geschichtsgenerierende Maschine prÀsentiert, die in mancher Hinsicht an das
marxistische Modell von Basis und Ăberbau erinnern mag.
Zur Relativierung des Anscheins völliger theoretischer Inkonsistenz wÀre
anzufĂŒhren, dass Musil diese Ăberlegungen ja nur als vorlĂ€ufig hinsichtlich
einer noch nicht vorhandenen âSoziologie des Kriegsâ (MoE 1090)33 kenn-
zeichnet, zu der er mit seinen Reflexionen beitragen will. Er sucht nach einem
invarianten Strukturgesetz, mit dem historisch variable, aber repetitiv wieder-
kehrende GewaltausbrĂŒche auf mikro- und makrosozialer Ebene zu begrĂŒn-
31 Vgl. etwa Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 10 u. passim.
32 Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 96, spricht nicht ganz zu Unrecht von einer âMystifi-
zierung des Kriegsausbruchesâ, wobei dessen inkriminierte âirrationalistische Deutungâ durch
Musil von diesem wohl eher als rationale Deutung des Irrationalismus gemeint war ; vgl. auch
unten Kap. I.2.2.
33 Freilich verschlieĂt er sich einer solchen gerade durch seine Interpretation, wie Böhme zu Recht
bemerkt (ebd., S. 97).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208