Page - 91 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 91 -
Text of the Page - 91 -
91Grundlagen
der Poetik Musils
sowie last, not least die ebenfalls dezidiert âmoderneâ, praktischer ausgerich-
tete Psychotechnik, deren intensive Kenntnis sein Aufsatz Psychotechnik und
ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere (1922) dokumentiert.66 Alle diese
Disziplinen haben Auswirkungen auf seine Vorstellung vom individuellen Le-
ben.
Mit Blick auf die Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie erklÀrt etwa Ul-
rich im Mann ohne Eigenschaften, diesmal im GesprĂ€ch mit Agathe : âWas man
heute noch persönliches Schicksal nennt, wird verdrÀngt von kollektiven und
schlieĂlich statistisch erfaĂbaren VorgĂ€ngenâ (MoE 722). Der fĂŒr Musils An-
thropologie der Gestaltlosigkeit bezeichnende Zusammenhang zwischen der
entindividualisierenden Wirkung der Statistik und jener der Liebe klingt in
Agathes nur scheinbar naiver Antwort an : âIch verstehe das natĂŒrlich nicht,
aber wÀre es denn nicht wunderbar, wenn man von der Statistik aufgelöst
wĂŒrde ; die Liebe bringt das ja doch lĂ€ngst nicht mehr zustande !â (MoE 722 f.)
Die âauflösendeâ Funktion der Statistik im modernen Leben im Sinne einer
Aufhebung des principium individuationis ist demnach strukturell vergleichbar
mit der Funktion der ĂŒberkommenen (Liebes-)Mystik in traditionellen Ge-
sellschaften. Von besonderer Bedeutung fĂŒr das Gestaltlosigkeitstheorem ist
das insofern, als mit der historischen Substitution der Liebe (bzw. der sie grun-
dierenden Religion) durch die Statistik weitere Ersetzungen einhergehen, wie
Musil bereits in seinem Spengler-Essay Geist und Erfahrung (1921) hinsichtlich
der âĂuĂerungen des praktischen Lebensâ hervorgehoben hat : âAnstelle des
starren Begriffs tritt die pulsierende Vorstellung, anstelle von Gleichsetzung
treten Analogien, an die der Wahrheit Wahrscheinlichkeit, der wesentliche
Aufbau ist nicht mehr systematisch, sondern schöpferisch.â (GW 8, 1049 f.)
Mit dieser Reihe programmatischer Substitutionen sind bereits zentrale Kons-
truktionsprinzipien des Mann ohne Eigenschaften benannt.
Ăhnlich wie in der zeitgenössischen Wissenssoziologie Karl Mannheims67
tritt nun an die Stelle der einen Wahrheit eine multiple, stets standortgebun-
66 Vgl. BLM 177â200 sowie schon Musils Exzerpte aus Hugo MĂŒnsterbergs GrundzĂŒge der Psycho-
technik (1914) in Tb 1, 521â523 ; dazu Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, S. 230â284, bes.
S. 237 ; Fleig : Der Mensch als Rennboot, S. 165â167.
67 Vgl. die anregenden Beobachtungen in NĂŒbel : Relationismus und Perspektivismus, S. 145 f. u.
156â160. Die naheliegende Frage, âob sich die beiden Analytiker der Moderne persönlich be-
gegnet sind oder ob der eine vom anderen beeinflusst worden sein könnteâ (S. 148 f.), kann von
NĂŒbel freilich genauso wenig beantwortet werden, wie es möglich ist, die âWahrscheinlichkeit
einer wechselseitigen Kenntnisnahmeâ â schlieĂlich gehörten sowohl Mannheims Ideologie und
Utopie (1929) als auch Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) âzu den in den Intellektu-
ellenkreisen der Weimarer Republik stark beachteten und diskutierten Publikationenâ â âposi-
tivistischâ zu belegen (S. 149). Immerhin sind beide Autoren bĂŒrgerlicher Herkunft, stammen
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208