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94 Teil I: Grundlegung
Musil die von der medizinischen Psychologie ausgehende Depotenzierung
des selbstbewussten und selbstbestimmten Subjekts73 noch prÀziser :
[I]m Verlauf des letzten Menschenalters ist in der Psychologie des Ich, von verschie-
denerlei EinflĂŒssen bedingt, an die Stelle des ĂŒberlieferten, sehr rationalistischen und
unwillkĂŒrlich dem logischen Denken nachgebildeten Seelenschemas (man hĂ€tte es, das
sich heute noch zum Teil in der juridischen und theologischen Denkweise erhalten hat,
eine zentralistische Obrigkeitspsychologie nennen können) allmÀhlich ein Bild der De-
zentralisation getreten, wonach jedermann weitaus die meisten seiner Entscheidungen
nicht rational, nicht zweckbewuĂt, ja ĂŒberhaupt kaum bewuĂt vollzieht, sondern durch
Reaktionen von sozusagen geschlossenen Teilen, âLeistungskomplexenâ, wie man sie
auch genannt hat, die auf bestimmte UmstĂ€nde âansprechenâ, wenn nicht ĂŒberhaupt
die ganze Person etwas tut, dem die BewuĂtheit erst nachfolgt. Das ist nicht im Sinn
einer âEnthauptungâ zu verstehen, im Gegenteil, die Bedeutung des BewuĂtseins, der
Vernunft, der Person usw. wird dadurch gekrÀftigt ; trotzdem verhÀlt es sich so, daà der
Mensch bei sehr vielen und gerade den persönlichsten Handlungen nicht von seinem
Ich gefĂŒhrt wird, sondern dieses mit sich fĂŒhrt, das auf der Lebensreise durchaus eine
Mittelstellung zwischen KapitÀn und Passagier innehat. (GW 8, 1221 f.)
Die von Musil als âLeistungskomplexeâ bezeichneten menschlichen Reaktio-
nen lassen sich auf Kretschmers Lehre von den Reflexbewegungen bzw. âein-
geschliffenen VerkĂŒrzungsformelnâ zurĂŒckfĂŒhren74, die im Verlauf der vorlie-
genden Arbeit immer wieder eine Rolle spielen wird.
73 In diesem ânegativ-anthropologischenâ Zusammenhang â und wohl weniger im Sinn eines âpri-
mĂ€r moralische[n] Unternehmen[s]â, wie Menges : Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit,
S. 24, etwas missverstĂ€ndlich formuliert â ist es zu verstehen, wenn Musil auf einem undatierten
Zettel notiert : âDas Ziel unsrer Literatur ist nicht Psychologie[,] sondern die Widerlegung jener
Psychologie, auf der sich unsre Moral (weitesten Sinnes) aufbaut. Also ein moralisches.â (GW 7,
873, nach M IV/3/403)
74 Vgl. Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 45 : âDas psychomotorische Verhalten eines er-
wachsenen höheren Lebewesens besteht [âŠ] aus [âŠ] Gruppen von ReaktionsvorgĂ€ngen in
der Weise, daĂ die groĂe Mehrzahl aller erforderten Akte mit fertigen Reflexen oder Gewöh-
nungen, d. h. mit ganz oder halb eingeschliffenen VerkĂŒrzungsformeln bestritten wird, wĂ€hrend
nur neuen oder besonders komplizierten Situationen gegenĂŒber noch Selektivreaktionen zur
Verwendung kommen.â Suggestiver noch ist die nur in der dritten Auflage der Medizinischen
Psychologie befindliche Formulierung, wonach âsich aus öfters geĂŒbten Handlungen allmĂ€hlich
Automatismen, Gewöhnungen, VerkĂŒrzungsformeln bilden, die halb reflexartige SelbstĂ€ndigkeit
bekommen, so daĂ fĂŒr den eigentlichen, mit BewuĂtsein ausgefĂŒhrten Willensakt dann nicht
viel mehr, als der [sic] generelle Impuls zu geben ĂŒbrigbleibt ; die Einzelakte der intendierten
Handlung laufen dann gekoppelt mit geringer oder ohne BewuĂtseinsbeteiligung, d. h. vorwie-
gend psychoid ab. Die groĂe Mehrzahl unserer alltĂ€glichen Willenshandlungen werden ganz
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208