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95Grundlagen
der Poetik Musils
Eine Konsequenz aus solchen Einsichten und zugleich einen Versuch ihrer
praktischen Umsetzung stellt die ebenfalls bereits angesprochene Psychotech-
nik dar75, die eine Ă€hnliche Rolle fĂŒr Musils Neubewertung des individuellen
menschlichen Lebens spielt und die an zentralen Stellen des Romans aus-
drĂŒcklich thematisiert wird. So referiert der ErzĂ€hler bereits im 10. Kapitel
des Ersten Buchs die im Technikstudium erworbene âmoderneâ Einsicht Ul-
richs, wonach âdie GĂŒte der Menschenâ weniger von inhĂ€renten Eigenschaf-
ten, sondern allererst âvon dem psychotechnischen Geschick [abhĂ€ngt], mit
dem man ihre Eigenschaften auswertetâ (MoE 37). Wiederum unter psycho-
technischem Gesichtspunkt handelt das 13. Kapitel von der Nivellierung der
substanziellen Differenz zwischen einem geistigen âGenieâ und einem Hoch-
leistungssportler (vgl. MoE 45), wie noch genauer zu zeigen sein wird.76 Selbst
das altehrwĂŒrdige Problem der Willensfreiheit, mit dem sich die Juristen im
Fall des Frauenmörders Moosbrugger so beharrlich wie erfolglos herum-
schlagen (vgl. MoE 242â244, 316â319 u. 534â538) â immerhin die zentrale
rechtliche Implikation der ĂŒberkommenen Vorstellung von IndividualitĂ€t â,
erscheint laut Ulrich unter BerĂŒcksichtigung des innovativen Potenzials der
Psychotechnik in einem neuen Licht : Ebenso âwie die Technik aus Kadavern,
Unrat, Bruch und Giften lĂ€ngst schon nĂŒtzliche Dinge bereitet, könnte dies
fast auch schon der psychologischen Technik gelingenâ, wenn man sie nur
lieĂe. Die PrĂ€vention von Verbrechen gerĂ€t somit von einer moralischen zu
einer eminent âsoziale[n] Frageâ (MoE 263).
MaĂgebliche anthropologische Postulate der idealistischen Subjektphilo-
sophie, die den einzelnen, selbstbewussten und selbstbestimmten Menschen
in den Mittelpunkt ihrer erkenntnistheoretischen und ethischen BemĂŒhun-
gen gestellt hat, wirken unter solchen Auspizien jedenfalls obsolet.77 Sie wer-
den im Zuge der fortgeschrittenen und fortschreitenden âFormierung einer
Disziplinargesellschaftâ78 ersetzt durch die ambivalente Vorstellung vom âIn-
dividuumâ, das man nach Foucaults historischem Normalisierungsmodell ei-
vorwiegend mit solchen Automatismen, eingeschliffenen Gewöhnungen, VerkĂŒrzungsformeln
bestritten, nur ein verschwindender Bruchteil der Gesamthandlung fĂ€llt in das BewuĂtsein, ist
psychisch im engeren Sinne.â (S. 43 f.) Dazu Wolf : âWer hat dich, du schöner Wald⊠?â, S. 203 f.
75 Zu den Implikationen der Psychotechnik fĂŒr die ĂŒberkommenen Vorstellungen von Individuali-
tĂ€t vgl. Fleig : Der Mensch als Rennboot, S. 171â176.
76 Mehr dazu im Kap. I.3.1.
77 Vgl. das diesbezĂŒgliche Fazit von Fleig : Der Mensch als Rennboot, S. 176 : âAn die Stelle des
Autonomiekonzepts eines sich selbstgewissen Individuums tritt [âŠ] eine nach psychotechni-
schen MaĂstĂ€ben genormte IndividualitĂ€t.â
78 Foucault : Ăberwachen und Strafen, S. 249.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208