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99Grundlagen
der Poetik Musils
den Vers geboren zu sein, und nur in einer besonderen inneren Konstellation, Epen
geschrieben haben, so war dies deutlich als eine Ausnahme zu erkennen. Entwe-
der drĂŒckte sich darin ein spielendes Behagen aus, das sich der archaisierenden
Form etwa so bediente, wie man sich eine unendlich lange Zigarre anzĂŒndet, um
das Tempo der Gedanken zur TrĂ€umerei zu verlangsamen, oder es drĂŒckte sich ein
romantisches Unbehagen aus, dem das Wort des Dichters nicht weit genug von den
Worten der Welt wegliegen konnte, die ja manchen Priestern der reinen Dichtung als
rettungslos profaniert erscheint. Die wirkliche FĂŒhrung ist lange schon an den Ro-
man ĂŒbergegangen, und wenn man sich da, die Produkte der Verlagsindustrie beiseite
lassend, an die groĂen Beispiele hĂ€lt, so sieht man eine Entwicklung, die sich nicht
nur vom Epos entfernt, sondern sogar schon vom Epischen, das heiĂt jenen mit der
Vergangenheit gemeinsamen Elementen, welchen der Roman es verdankt, daĂ er fĂŒr
eine Art ziviler Form der epischen Dichtung gilt. (GW 9, 1675 f.)
In diesem Sinn stellt auch das essayistische Fragment Die Krisis des Romans
unmissverstĂ€ndlich fest : âGilt der völlige Ăbergang vom Epos zum Roman
als erster Schritt, so folge nun der zweite ; es kommt nach der Gehobenheit
ein zweites Element dran, das des ErzĂ€hlens.â (GW 8, 1412) Musil prognosti-
ziert hier in eigener Sache ein allgemeines Verschwinden des herkömmlichen
ErzĂ€hlens, womit er aus heutiger Sicht wohl nicht recht behalten hat. FĂŒr die
Poetik des Mann ohne Eigenschaften ist der skizzierte Sachverhalt indes von
fundamentaler Bedeutung.85 Im gegenwÀrtigen Zusammenhang steht die Pro-
blematik der Figurenkonstitution im Vordergrund, weshalb Musils Verabschie-
dung der epischen âGehobenheitâ eine eingehendere Betrachtung verdient.
Der Mann ohne Eigenschaften widmet dieser Problematik einschlÀgige Reflexi-
onen, so etwa die scheinbar auf Naturgegebenheiten rekurrierende âFormelâ :
âEs gibt nichts, was dem Geist so gefĂ€hrlich wĂ€re wie seine Verbindung mit
groĂen Dingen.â (MoE 398) Zur Veranschaulichung dieser durchaus auch iro-
nisch zu verstehenden angeblichen GesetzmĂ€Ăigkeit fĂŒhrt der ErzĂ€hler aus :
Man könnte die Gefahr der Verbindung mit groĂen Dingen darum auch als ein Ge-
setz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich
allgemein zu gelten. Die Reden hochgestellter, im GroĂen wirkender Personen sind
gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in einer besonders nahen
Beziehung zu besonders wĂŒrdigen GegenstĂ€nden stehen, sehen gewöhnlich so aus,
daĂ sie ohne diese BegĂŒnstigung fĂŒr sehr zurĂŒckgeblieben gehalten wĂŒrden. Die uns
85 Zu dieser erzÀhltheoretischen Problematik vgl. Wolf : Warum Moosbrugger nicht erzÀhlt,
S. 345â362 ; daneben auch ders.: âWer hat dich, du schöner Wald⊠?â, S. 213â217.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208