Page - 108 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 108 -
Text of the Page - 108 -
108 Teil I: Grundlegung
Musils Reflexionen ĂŒber die darstellerischen Vorteile der beispielhaften Ver-
körperung bzw. der plastischen Evokation von Problemen praktischer oder
theoretischer Art weisen jedenfalls erstaunliche Analogien zu den oben refe-
rierten Beobachtungen des Kultursoziologen Pierre Bourdieu auf.102 Zwar ist
sich der Schriftsteller bewusst : âGestalten eines Dichters haben keine Seele.
Keine kausale. Keine in sich selbst verstĂ€ndliche [âŠ]. Personen eines Dicht-
werks wie lebende Menschen [zu] behandeln ist die NaivitÀt eines Affen, der
in den Spiegel greift.â (M IV/3/82) Mit diesen nachgelassenen Worten geiĂelt
Musil â angeblich bereits um 1913103 â den grundlegenden âIrrtumâ der frĂŒ-
hen psychoanalytischen Literaturinterpretation Theodor Reiks.104 Das ganze
Unterfangen gehe âvon einer falschen Voraussetzung ausâ, da es an die âStelleâ
der âSeeleâ literarischer Figuren âdie der psychoanalytischen Theorieâ setze
und daraus SchlĂŒsse ziehe, die dann in der Folge die vorausgesetzten theoreti-
schen Grundannahmen nur bestĂ€tigten. Musil hĂ€lt dem entgegen : âWas man
im Dichtwerk Psychologie nennt, scheidet sich an diesem Punkt von der wis-
senschaftlichen. Nie sind diese Personen kausal erklÀrbar. Andre Interessen-
zusammenhĂ€nge schieben sich in den psychologischen.â (M IV/3/82)105 Hier
kommt das konstruktive Moment der Literatur zum Tragen, die Eigendyna-
mik des ânoch recht unbekannte[n] Land[es]â der âĂsthetikâ (M IV/3/82) :
Romanfiguren folgen als textuelle Konstruktionen in erster Linie einem kĂŒnst-
lerischen KalkĂŒl, das psychologische â und auch soziologische â Diskurs-
partikel ganz der eigenen Werkökonomie unterstellt, weshalb ihre Analyse
nicht un(ter)bewusste, sondern nur âunterbĂŒcherliche ZusammenhĂ€ngeâ (M
IV/3/82) im Sinne einer handlungs- und Ă€uĂerungserzeugenden âgenerativen
Formelâ aufzudecken vermag.
Trotz dieser Einsicht in die prinzipielle Andersartigkeit von ârealenâ Per-
sonen und literarischen Figuren will Musil im Roman keine âblutleerenâ Ge-
stalten vorfĂŒhren, die bloĂ als papierene Stellvertreter gedanklicher Konzepte
recht vorstellen, wie. Vielleicht sind es andere Zentren, die an der Aufnahme von ErzÀhlungen
mitbeteiligt sind ?â Daraus ergibt sich ihm folgende âFrage : Wenn sich die Darlegung an den
Intellekt wendet, die ErzĂ€hlung so wirkt, wie geschildert (und dazu kĂ€me noch die âPhantasieâ,
richtiger das surrogative Phantasieerleben) : woran wendet sich ein Essay ? Sitzt er zwischen
zwei StĂŒhlen ? Ergreift er unmittelbar die kreativen Funktionen des Lesers und verschwindet in
ihnen ?â (Tb 1, 816)
102 Vgl. Kap I.1.1.
103 So Jannidis : Figur und Person, S. 170.
104 Es handelt sich um den Entwurf einer Rezension zu Theodor Reiks Studie Arthur Schnitzler als
Psycholog.
105 Zur âUnterscheidung von kausaler und dichterischer (Motivations)Psychologieâ nach Hugo
MĂŒnsterberg vgl. auch Musils einschlĂ€gigen Eintrag im Arbeitsheft 10 (Tb 1, 521â523, Zit. 521).
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208