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116 Teil I: Grundlegung
bzw. âEigenschaftlichkeitâ vermitteln.117 Die dazu nötigen Informationen mĂŒs-
sen gar nicht sonderlich ĂŒppig sein. Musil selbst zeigt sich darĂŒber erstaunt :
âEs ist unglaublich, wie wenig man im Roman von den Personen zu erfahren
braucht.â (M II/1/142) Dieses erzĂ€hllogische PhĂ€nomen ist eine Folge der
Funktion des Habitus als einheitsstiftende âgenerative Formelâ, deren Hervor-
bringungen fĂŒr jeden Leser mit durchschnittlichem Weltwissen einen Wieder-
erkennungseffekt haben : âHamsun spricht sich im Roman ĂŒber alles Mögliche
aus, Tolstoi, Sozialismus, Religion. Er bindet es an den Sprechenden ; die Ge-
danken werden nicht zuende gefĂŒhrt, sondern man intuitiert aus dem Ein-
druck der Person, wie sie aussĂ€hen.â (M II/1/143) Eine entscheidende Rolle
spielt dabei die erzÀhlerische Technik des Lebendigmachens von Figuren
durch Aussparungen bei der Mitteilung relevanter Informationen :
ZurĂŒckhalten, Andeutung : Man muss sich gewisse BeschrĂ€nkungen auferlegen, so-
wie [sic] ein Maler nicht alles in sein Bild hineinziehen darf, was er weiss. Die Seele
der Menschen soll durch ihre Worte und Handlungen nur durchschimmern und nie
deutlicher als im wirklichen Leben. Der Unterschied ist zu respektieren zwischen
dem Aufbrechen einer TĂŒr und der BerĂŒhrung eines unbeachteten Knopfes, der sie
aufspringen macht. (M II/1/145)
Zur BegrĂŒndung dieser erzĂ€hltechnischen Maximen, wonach die âSeele der
Menschenâ â was im psychotechnischen Zusammenhang so viel heiĂt wie
Habitus â im Roman wie âim wirklichen Lebenâ nicht unmittelbar sichtbar
sein soll, beruft sich Musil auf psychologische Befunde :
Andeutung wirkt stĂ€rker als AusfĂŒhrung. Rohe Puppen erregen die Kinderphantasie
stĂ€rker als schön ausgefĂŒhrte. Ein Hund spielt mit einem Stein Beute, nicht aber mit
einem nachgemachten Hasen. In puncto Tragbarkeit mit dem Maul ist er wesentlich.
Das Kleine der Puppe, das, womit man schalten kann, ist fĂŒr die MĂŒtterlichkeit die
Hauptsache, es ist sozusagen die Idee des kleinen Kindes, von der die Erscheinungs-
fĂŒlle nur ablenkt. Hinzukommt, dass man unvorbereitet wirklich besitzt ! â Das Ge-
rĂŒcht, das, worĂŒber man nichts Bestimmtes weiss, entzĂŒndet die Phantasie. Eine Ge-
fahr vergrössert sich in der Vorstellung. Wesen der Phobien. Warum reizen GerĂŒche
die Phantasie so stark ? Wesen der Metaphorik : Der Vergleich eines Mundes mit einer
Koralle wÀre eine Heruntersetzung, wenn nicht durch das hineingetragene Unklare
die Wirkung entstĂŒnde. (M II/1/145 ; vgl. Tb 1, 470)
117 Vgl. die ErgĂ€nzung Musils zur zitierten Passage aus den Notizen zur âErzĂ€hlungstechnikâ im
Arbeitsheft 8 : âEin Mensch, der einen dieser Gedanken hat, hat auch Ă€hnliche.â (Tb 1, 390)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208