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136 Teil I: Grundlegung
klassischen MusikstĂŒcksâ, die âunbefangen von Musik, unter dem Gesichts-
punkt sozialer ĂuĂerung betrachtetâ, âeine noch unbeschriebene Manieâ
aufweisen, âderen MerkwĂŒrdigkeit nichts an die Seite zu stellenâ sei (GW 8,
1139). Musil stellt sich nun die Frage, â[w]eshalb eine solche, im Grunde selt-
same Abspaltung vom vollen Leben zur Kunst wirdâ ; er vermutet, es hĂ€nge
mit den, untereinander eng verwandten, VorgÀngen zusammen, welche die Psycho-
logie Verdichtung und Verschiebung nennt, wobei entweder heterogene, aber unter
gleichem Affekt stehende Bilder zu Konglomeraten zusammengeballt werden, an de-
nen gewissermaĂen die Affektsumme haftet (z. B. Tiermenschen und multiple Tiere
der primitiven Kulturen, Traum- und Halluzinationsbilder, wo gleichfalls zwei oder
mehrere Personen in einer erscheinen), oder umgekehrt, ein einzelnes Bild (Teil) als
ReprÀsentant eines Komplexes auftritt und mit dem unerklÀrlich hohen Affektwert
des Ganzen geladen erscheint (Magische Rolle von Haaren, FingernÀgeln, Schatten,
Spiegelbild u. dgl.). (GW 8, 1139)
Musil bezieht sich hier nicht etwa auf Freuds Psychoanalyse187, wie die Begriffe
âVerdichtung und Verschiebungâ suggerieren könnten, sondern â die angefĂŒhr-
ten Kategorien und Beispiele bestĂ€tigen es â auf die Konstitutions
psychologie
Ernst Kretschmers, auf die er sich wenige Abschnitte spÀter im Essay und in
Abgrenzung von der Psychoanalyse auch ausdrĂŒcklich beruft.188 Kretschmers
Grundlagenwerk Medizinische Psychologie definiert âVerdichtungâ im Anschluss
an Freud als Resultat eines bildlichen âAgglutinationsvorgangesâ189, wobei
âsich ganz heterogene, aber unter gemeinsamem Affekt stehende Bilder zu
einer [âŠ] als einheitlich empfundenen Gesamtsituation zusammenballenâ190
â etwa im Sinn einer Symbolbildung.191 Im Unterschied dazu wird âder Mecha-
nismus der Verschiebungâ als ein âder Verdichtung aufs engste verwandter Vor-
gangâ beschrieben : âBei der Verschiebung sind nicht wie bei der Verdichtung
sĂ€mtliche Bilder eines Komplexes gleichzeitig im Blickfeld des BewuĂtseins,
sondern es ist nur ein Bild aus einer assoziativen Gruppe da, das dann alle
187 So aber Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 128.
188 Er habe, schreibt Musil, Kretschmers âkleine[s] Buchâ, das âwertvolle AnsĂ€tze zur Psychologie
der GefĂŒhleâ gebe, âdie bisher von der experimentellen Psychologie mit zu wenig Erfolg, von
der Psychoanalyse zu einseitig behandelt wordenâ seien, âhier vielfach benĂŒtztâ (GW 8, 1141,
Anm. **). Vgl. dazu Bonacchi : Die Gestalt der Dichtung, S. 196â203 ; Schneider : VerheiĂung
der Bilder, S. 319â321.
189 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 20.
190 Ebd., S. 57.
191 Ebd., S. 21 f.; dazu auch Bleuler : Lehrbuch der Psychiatrie, S. 286.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208