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150 Teil I: Grundlegung
Kultur des Films aber nicht recht Eingang gefunden hatâ226. Es handelt sich bei
der apostrophierten Literatur offensichtlich in erster Linie um Musils eigene
Literatur227, was Frank zwar durchaus nahelegt, in seiner BeweisfĂŒhrung aber
nur mit Blick auf die frĂŒhen ErzĂ€hltexte der Vereinigungen untersucht, deren
Ăsthetik Musil um 1925 schon lĂ€ngst verabschiedet hatte. Es geht ihm Mitte
der zwanziger Jahre keineswegs mehr um die Rettung des noch von Hof-
mannsthal in Anspruch genommenen und nunmehr von den Wissenschaf-
ten sowie den avancierten technischen âApparatenâ gefĂ€hrdeten literarischen
âPrivileg[s] der Aufzeichnung des FlĂŒchtigenâ228, und er zielt deshalb auch
nicht in erster Linie auf âdie besondere AusprĂ€gung der Wahrnehmung und
die Strategien des Aufschreibensâ229, wie Frank mit Blick auf die allgemeine
kulturhistorische Situation um 1925 vermutet.230 Musils StoĂrichtung ist zu
226 Ebd., S. 137 f.; vgl. GrĂ€tz : Psychopathologie und Ăsthetik, S. 193. BalĂĄzs hat 1923 in einer
literarischen Beilage der Ăsterreichischen Rundschau unter dem Titel Grenzen das bis dahin vor-
liegende literarische Werk Musils rezensiert ; vgl. dazu RuĂegger : Kinema mundi, S. 116â121.
227 Vgl. die Hinweise darauf bei Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 126 f. Bol-
terauer : Die Herausforderung der neuen Medien, S. 158, skizziert die historische Situation, in
der Musil seine AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik verfasst hat, im Sinne medientheoretischer Gemein-
plĂ€tze : âDas Auftauchen neuer Technologien provoziert neben der Begeisterung ĂŒber techni-
sche Fertigkeiten [âŠ] immer auch eine Infragestellung der âaltenâ, nun als veraltet geltenden
Medien. [âŠ] Was kann das alte Medium (noch), was nicht das neue Medium besser kann ?â
Implizit vorausgesetzt wird dabei, dass neue Medien tendenziell immer alles zumindest gleich
gut oder aber besser können. So ĂŒberrascht es nicht, dass Bolterauer âChance und Grenzeâ von
Musils Essay in der âGefahrâ sieht, âins Fahrwasser jener Medien-VerĂ€chter zu geraten, die, was
ihnen als Konkurrenz erscheinen könnte, als wertlos zu verunglimpfen sich beeilen, weil er die
Eigenheiten des neuen Mediums Film sofort in das Universum seiner eigenen kĂŒnstlerischen
ProduktivitĂ€t uminterpretiert, zurechtbiegt, zurechtdeutetâ, frei nach dem Motto : âDer Film
ist nur deshalb so gut, weil er bestĂ€tigt, was Robert Musil immer schon vermutet hat.â (S. 160)
Diese etwas maliziöse Deutung scheint mir nicht sonderlich triftig, weil Musil in seinem Essay
â der sich ausdrĂŒcklich nicht als Rezension im eigentlichen Wortsinn zu erkennen gibt, sondern
als Sammlung anlassbezogener âBemerkungenâ (GW 8, 1138 u. ö.; vgl. dazu Br 1, 371) â den
Film keineswegs als âwertlosâ verunglimpft, sondern im Gegenteil die als ĂŒberholt attackierte
Literatur gegen die nicht immer sehr differenzierte Radikalkritik BalĂĄzsâ (vgl. BalĂĄzs : Der sicht-
bare Mensch, S. 18, 42â46, 74 u. 85 ; dagegen nur S. 61 f.) zu legitimieren trachtet. Abgesehen
davon können gerade âUminterpretationenâ und MissverstĂ€ndnisse kulturelle ProduktivitĂ€t ent-
falten, wie die Kulturgeschichte zeigt.
228 Frank : Musil contra BalĂĄzs, S. 142. âDas protokinematographische Scharfstellen der Schrift
auf das Gesicht und den Körper haben seither die ProtokollsÀtze der Wissenschaften und die
Apparate ĂŒbernommen.â Genaueres zu Hofmannsthal findet sich ebd., S. 125â133.
229 Ebd., S. 143.
230 Frank meint ĂŒberdies, Musil verfolge in AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik âausdrĂŒcklichâ ein âPro-
gramm[ ] der Normalisierungâ (ebd., S. 144), denn er bĂ€ndige âseine ursprĂŒnglich radikale
Poetik des âanderen Zustandsâ durch ein Gebot der RĂŒckĂŒbersetzbarkeitâ (S. 152). Wie diese
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208