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151Grundlagen
der Poetik Musils
dieser Zeit viel spezifischer : Deutlich wird der produktionsÀsthetische Sub-
text seiner BeweisfĂŒhrung in eigener Sache etwa dann, wenn man die innere
Tendenz seiner Argumente genauer verfolgt. So schlieĂt er an die erwĂ€hnte
Diskussion der Problematik des Kitsches im Film folgende weiterfĂŒhrende
Ăberlegung an :
Sieht man nÀher zu, so entdeckt man, daà dies [Formelhaftigkeit, N. C. W.] im Film
selten dort eintritt, wo es sich um das unmittelbare Erlebnis handelt, dagegen fast
immer, wenn die Verbindung und Verarbeitung der Erlebnisse angestrebt wird. In
der Schau entfaltet der Film [âŠ] die ganze Unendlichkeit und UnausdrĂŒckbarkeit,
welche alles Daseiende hat â gleichsam unter Glas gesetzt dadurch, daĂ man es nur
sieht ; in der Verbindung und Verarbeitung der EindrĂŒcke dagegen ist er scheinbar
[offenbar im Sinne von âanscheinendâ gemeint, N. C. W.] stĂ€rker als jede andere Kunst
an die billigste RationalitÀt und Typik gekettet. Er macht die Seele wohl scheinbar
[!] unmittelbar sichtbar und den Gedanken zum Erlebnis, in Wahrheit hÀngt dabei
die Interpretation jeder einzelnen GebÀrde aber von dem Reichtum an Interpretati-
onshilfen ab, den der Beschauer mitbringt, die VerstÀndlichkeit der Handlung wÀchst
(genau so wie beim Theater, wo man das fĂŒr besonders dramatisch hĂ€lt) mit ihrer
Undifferenziertheit, die Ausdruckskraft also mit der Ausdrucksarmut, und die Ty-
pik des Films ist nichts als der vergröbernde Zeiger von der des Lebens. Dadurch,
scheint mir, wird der Film in einem Teil seiner Wirkungen mit seinem Niveau immer
in einem festen Abstand unter dem Niveau der gleichzeitigen Literatur liegen, und
sein Schicksal vollzieht sich nicht als eine Erlösung von ihr, sondern gemeinsam mit
dem ihren. (GW 8, 1148 f.)
Aus Musils Argumenten fĂŒr die gewagte Prognose, dass der Film wirkungs-
Ă€sthetisch âmit seinem Niveau immer in einem festen Abstand unter dem
Niveau der gleichzeitigen Literatur liegenâ wird231, lĂ€sst sich unschwer ex ne-
angebliche oder tatsĂ€chliche âNormalisierungâ nun aber erzĂ€hltechnisch ins Werk gesetzt wird,
bleibt bei Frank im Dunkeln. Zu Recht stellt er im Sinne Musils fest : âDie Existenzberechti-
gung von Literatur ergibt sich nicht aus der klassifikatorischen Verwaltung von bestehenden
Wirklichkeiten, sondern in der Wiedergewinnung von SpielrÀumen, LebensrÀumen des Indi-
viduellen jenseits des gewiss Gewussten.â (S. 151) Ob damit aber auf der Ausdrucksebene âein
latent sprachmagischer Gestusâ impliziert ist, âder mit âfreigesetztenâ Signifikanten Signifikate
und bestenfalls auch Referenten zu erzeugen hofft, der buchstÀblich Worte malt, der Literatur
als genuinen Bestandteil der visuellen Kultur entwirftâ (ebd.), bleibt angesichts der tatsĂ€chli-
chen literarischen Produktion Musils in den zwanziger und dreiĂiger Jahren fraglich.
231 Es handelt sich um den âeinzige[n] Abschnitt in diesem Aufsatz, in dem Musil ein negatives
Urteil ĂŒber das neue Medium fĂ€llt und dessen Unterlegenheit gegenĂŒber der Literatur hervor-
hebtâ, wie Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 133, betont.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208