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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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152 Teil I: Grundlegung gativo das spezifische ErzĂ€hlprogramm des damals entstehenden Mann ohne Eigenschaften entwickeln, das sich keineswegs als (in der ErzĂ€hlpraxis mehr oder weniger gescheiterter) Versuch einer ‚filmischen Schreibweise‘232 prĂ€- sentiert, wie Christian Rogowski bedauernd feststellt.233 Im Gegenteil : Musil entwickelt in der medienkomparatistischen Auseinandersetzung mit dem Film bzw. mit dem Ă€sthetischen Diskurs ĂŒber ihn mehrere GrĂŒnde, gerade nicht filmisch erzĂ€hlen zu wollen. So verabschiedet er zunĂ€chst vom Standpunkt der Literatur aus die herausgehobene Rolle des unmittelbaren Eindrucks oder Erlebnisses, das bei ihm deutlich depotenziert erscheint, da sich der Film zu dessen Gestaltung besser eigne als das Wort.234 DemgegenĂŒber legt er be- sonderen Wert auf die syntagmatische „Verbindung und Verarbeitung der Er- lebnisse“ bzw. der bildhaften paradigmatischen „EindrĂŒcke“, die im Medium der ErzĂ€hlliteratur – im Vergleich zum damals noch stummen Film – von der kĂŒnstlerischen Darstellung selbst viel differenzierter geleistet werden kann.235 232 Zu dieser nicht unproblematischen Kategorie, die mittlerweile weitgehend durch den genau- eren Begriff des ‚filmbezogenen Schreibens‘ bzw. durch die differenziertere Terminologie der IntermedialitĂ€tsforschung ersetzt worden ist, vgl. Rajewsky : IntermedialitĂ€t, S. 39–58, Zit. S. 39. 233 Vgl. Rogowski : „Ein andres Verhalten zur Welt“, S. 114. 234 Die medial unterschiedlichen Erwartungen bzw. Anspruchshaltungen der Rezipienten gegen- ĂŒber Literatur und Film diskutiert Musil in seiner bereits zitierten Glosse EindrĂŒcke eines Nai- ven, wobei er die grĂ¶ĂŸere AufnahmefĂ€higkeit des Menschen fĂŒr visuelle EindrĂŒcke sowie deren stĂ€rkere Perseveranz – also einen medienspezifischen Vorzug des Films – keineswegs leugnet : „[W]ozu Worte ? Ich sah einen deutschen Film, der einen elenden Kitschroman verkurbelte. Ein solcher Ablauf von Geschehnissen, der Übelkeit verursacht, wenn man sich ihn – lesend – vorstellen muß, wird geschluckt, wenn er vor einen hingestellt wird. Man sitzt ja schließlich auch stundenlang in Straßenbahnwagen, WartesĂ€len und Zimmern, mit noch viel langweilige- ren Geschehnissen vor Augen und hĂ€tte schon lĂ€ngst Selbstmord begangen, wenn nicht eben die Augen viel geduldiger, abgehĂ€rteter und dankbarer wĂ€ren als die Ohren ; sie amĂŒsieren sich leichter. Und zwischendurch – in diesem Film – zwischendurch, wo ein MĂ€del einem Mann sagt, komm mit mir ins Wasser oder –, wo ihre Haare im Wind flattern, ihre Finger sich in seine Ärmel krampfen und ihre Augen schreien, das alles auf einer DĂŒne, im steifen Wind, lĂ€cherlich groß vor der kleinen Unendlichkeit der unten rollenden See : zwischendurch gehört es zu den EindrĂŒcken, die man nicht vergißt. [
] [W]ozu eigentlich Worte ? Striche man bloß auf dem Theater alle Worte weg, die nicht mehr sagen, als der Zuschauer auf den ersten Blick errĂ€t ! Die Theater kĂ€men freilich um ihre bestbezahlten PlĂ€tze, die GemeinplĂ€tze.“ (GW 9, 1620) Weiteres zur anhaltenden Wirkung „einzelne[r] Bilder des Films“ gegenĂŒber dem schnell ver- blassenden „Eindruck“ einzelner Szenen einer „TheaterauffĂŒhrung“ trotz deren „UnterstĂŒtzung durch das Wort“ findet sich in einer nachgelassenen Notiz aus dem Jahr 1924 (GW 7, 909 f., nach M VII/11/175). 235 Vgl. den knappen Hinweis von Corino : Musil [2003], S. 1049. Auch Bolterauer : Die Heraus- forderung der neuen Medien, S. 170, meint, Musil nehme „die Provokation der neuen Medien zum Anlaß, um ĂŒber MedialitĂ€t und MaterialitĂ€t der ‚neuen‘ und der ‚alten‘ Medien und ĂŒber die sich daraus ergebenden Grenzen und Konsequenzen fĂŒr literarisches Schreiben zu reflek-
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
FWF-E-Book-Library
Title
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Subtitle
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Author
Norbert Christian Wolf
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2011
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Size
15.5 x 23.0 cm
Pages
1224
Keywords
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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