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167Grundbegriffe
des Romankonzepts
TatsĂ€chlich impliziert diese produktive Konzeption der âEigenschaftslosig-
keitâ keineswegs die (angebliche) Sehnsucht Ulrichs und seines Autors nach
substanzieller âEntfaltung eines ursprĂŒnglichen Menschseinsâ, nach einer
âneue[n] Moralâ, âdie den Menschen vor Entfremdung bewahrt, ihm seine
AuthentizitĂ€t sichertâ und âihn fĂŒr ursprĂŒngliche Erfahrungen offenhĂ€ltâ.7 Im
Gegenteil : Sie stĂŒtzt sich vielmehr auf die im Gestaltlosigkeitstheorem be-
grĂŒndete Vorstellung von der generellen Formbarkeit des Menschen und von
der historischen bzw. sozialen RelativitÀt seiner Erscheinungsformen, wie das
10. Romankapitel zeigt :
Wen soll das tausendjĂ€hrige Gerede darĂŒber, was gut und bös sei, fesseln, wenn sich
herausgestellt hat, daĂ das gar keine âKonstantenâ sind, sondern âFunktionswerteâ, so
daĂ die GĂŒte der Werke von den geschichtlichen UmstĂ€nden abhĂ€ngt und die GĂŒte
der Menschen von dem psychotechnischen Geschick, mit dem man ihre Eigenschaf-
ten auswertet ! (MoE 37)
Der im ersten Teil dieses Satzes verwendete Begriff des âFunktionswertsâ er-
innert wiederum an Machs relationierenden âEmpiriokritizismusâ8, der fĂŒr
wichtige Aspekte der Musilâschen Konzeption von âEigenschaftslosigkeitâ Pate
stand. So empfiehlt Mach, âdieselben einzelnen Eigenschaften als bald diesem,
bald jenem Komplex (Körper) angehörig anzusehen, und an die Stelle der
nicht bestÀndigen Körper das bestÀndige Gesetz treten zu lassen, welches den
Wechsel der Eigenschaften und ihrer VerknĂŒpfungen ĂŒberdauertâ9.
DemgegenĂŒber deutet die Rede vom âpsychotechnischen Geschickâ auf
einen anderen diskursiven Kontext, nÀmlich auf die mit dem psychophysi-
schen Monismus in vielerlei Hinsicht durchaus kompatible, anwendungsbe-
zogene psychologische Disziplin der Psychotechnik10, deren weitreichende
7 So Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 280.
8 Vgl. Mach : Die Analyse der Empfindungen, S. 74 : âDie ZusammenhĂ€nge in der Natur
sind selten so einfach, daĂ man in einem gegebenen Falle eine Ursache und eine Wirkung an-
geben könnte. Ich habe deshalb schon vor langer Zeit versucht, den Ursachenbegriff durch den
Funktionsbegriff zu ersetzen : AbhÀngigkeit der Erscheinungen von einander, genauer : AbhÀngigkeit
der Merkmale der Erscheinungen von einander. Dieser Begriff ist einer beliebigen Erweiterung und
EinschrĂ€nkung fĂ€hig, je nach der Forderung der untersuchten Tatsachen.â Vgl. dazu Frank : Auf
der Suche nach einem Grund, S. 320.
9 Mach : Die Analyse der Empfindungen, S. 294.
10 Nach Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, S. 232, âgemahnt der Titel von Musils Roman
an zweierlei : an eine Definition von Persönlichkeit und an eine Methode der Rationalisierung
und Organisation der Ressource Mensch ; und an ein Drittes : an den Krieg als den Ort ihrer
EinĂŒbungâ. Indem er in ausdrĂŒcklicher Abgrenzung von âden Höhen der Geistesgeschichteâ
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208