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169Grundbegriffe
des Romankonzepts
Wie aus den abschlieĂenden Worten hervorgeht, zielt die erzĂ€hlerische Berufung
auf die Implikationen der Psychotechnik wiederum auf eine Depotenzierung
des individuellen und einzigartigen Subjekts, auf eine Infragestellung der in der
Moderne wohlfeil gewordenen Rede vom voraussetzungslosen exzeptionellen
âGenieâ12 und dient somit indirekt der Distinktion Musils von den ĂŒberkomme-
nen anthropologischen Vorstellungen der idealistischen Subjektphilosophie : Die
âEigenschaftenâ eines Menschen sind demnach nicht individuell, feststehend und
unteilbar, sondern erweisen sich als aus vielfÀltigen Bestandteilen zusammenge-
setzt und in gewissen Grenzen auch verĂ€nderlich.13 Mit den berĂŒhmten Worten
aus der Musilâschen Rede zur Rilke-Feier (1927), die dort allerdings in anderem
Zusammenhang stehen : âDie Eigen-schaften werden zu Aller-schaften !â (GW
8, 1237) Genau das fĂŒhrt der Roman performativ vor, indem nach einer StraĂen-
schlĂ€gerei auf einer Polizeistation Ulrichs âPersonalienâ festgestellt werden und
er die Erfahrung macht, âin eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönli-
che, allgemeine Bestandteile zergliederte, ehe von seiner Schuld oder Unschuld
auch nur die Rede warâ (MoE 159). Ulrich erlebt am eigenen Leib
die statistische Entzauberung seiner Person, und das von dem Polizeiorgan auf ihn
angewandte MaĂ- und Beschreibungsverfahren begeisterte ihn wie ein vom Satan
12 Vgl. etwa Moser : Zwischen Wissenschaft und Literatur, S. 178 ; ders.: Zur Erforschung des
modernen Menschen, S. 126 ; dagegen Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2,
S. 278â298 : Schmidt spricht von einer âfundamentalen Genie-Moral Ulrichsâ, vor deren Kont-
rastfolie âden âMann ohne Eigenschaftenâ eine konsequente Ironisierung oberflĂ€chlich-falscher
Genievorstellungen durchziehtâ (S. 288). Mit anderen Worten : âDurch die Brechung im Me-
dium des Ungenialen und Pseudo-Genialen lĂ€Ăt Musil so das â nur in einer Art von theologia ne-
gativa zu bestimmende â Wesen des wahren Genies deutlich werden.â (S. 292) Die vorliegende
Arbeit kann bei Musil in erster Linie die âkonsequente Ironisierungâ ĂŒberkommener Genievor-
stellungen ausmachen, keineswegs aber die ungebrochene Affirmation eines âwahren Geniesâ
oder gar von dessen angeblicher âWesenhaftigkeitâ, die der hier rekonstruierten Vorstellung von
âEigenschaftslosigkeitâ radikal widersprĂ€che. Die von Schmidt zur Untermauerung seiner These
vom âgenietrĂ€chtigen Individualismusâ Musils (S. 297) herangezogenen Nachlass-Stellen erwei-
sen sich bei genauerer Betrachtung entweder als amorphes Diskursmaterial, das der Autor zum
Zweck der Figurenkonstitution gesammelt hat (vgl. M I/1/41), oder sie bleiben ambivalent bis
paradox und mĂŒnden in die Aussage âEs gibt heute kein Genieâ, denn : âGeniale Gedanken sind
einfachâ (M I/1/42), also der komplexen modernen Welt nicht mehr angemessen. Zur Haltlo-
sigkeit des Geniegedankens in der Moderne vgl. auch das Romankapitel I/93 (MoE 421â423)
sowie Musils einschlÀgige Notiz im Arbeitsheft 28 (Tb 1, 679).
13 Zu den erzÀhltheoretischen Konsequenzen erlÀutert Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel
âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 328, die Musilâsche Eigenschaftskonzeption ermögliche es âdem
Autor, eine eigenschaftslose âHauptfigurâ episch zu erfassen, weil die Bausteine, aus denen die
Geschichte ĂŒber die Person des Helden zusammengesetzt wird, keine Eigen-schaften mehr sind,
[âŠ] sondern Elemente der Allgemeinheitâ.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208