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174 Teil I: Grundlegung
stenz des Menschen ; ein heftig agierendes Wesen vor einem ungeheuren, sich lang-
sam erhellenden Hintergrund : d. i. das sich auf diesem Wege anbahnende GefĂŒhl von
den Aufgaben der neuen Dichtung. (GW 8, 1404, nach M VI/2/21)
Das Bild âheftig agierenderâ Individuen vor dem ĂŒberindividuellen âHinter-
grundâ allgemeiner, âsich langsam erhellenderâ psychologischer und sozio-
logischer GesetzmĂ€Ăigkeiten bezeichnet einen zentralen konzeptionellen
Anspruch des Musilâschen Romanprojekts, das auf diese Weise bereits die an-
thropologischen und kulturellen Implikationen reflektiert, die nach Foucaults
historischer Diskursanalyse mit der âFormierung einer Disziplinargesellschaftâ
einhergehen.22
Die erste Romanfigur, die Ulrich â freilich in despektierlicher Absicht â
mit dem titelgebenden Begriff apostrophiert, ist der substanz- und rollenglÀu-
bige Walter23, der im 17. Kapitel Clarisse gegenĂŒber entnervt behauptet : âEr
ist ein Mann ohne Eigenschaften !â Auf die Frage seiner Gattin, was das sei,
antwortet Walter sibyllinisch : âNichts. Eben nichts ist das !â (MoE 64) Nach
einigem Nachfragen Clarisses und den eigenen Versuchen, ihr Interesse mit
einem ganzen Katalog von Kriterien der âEigenschaftslosigkeitâ (MoE 64 f.)
zu befriedigen, dessen Konstitution freilich selbst eher der unpersönlichen
Sprachdynamik als einer individuellen gedanklichen Konzeption entspringt24,
22 Vgl. etwa Foucault : Ăberwachen und Strafen, S. 249 : âAls man von den traditionell-rituellen
Mechanismen der Individualisierung zu den wissenschaftlich-disziplinÀren Mechanismen
ĂŒberging, als das Normale den Platz des AltehrwĂŒrdigen einnahm und das MaĂ den Platz des
Standes, als die IndividualitĂ€t des berechenbaren Menschen die IndividualitĂ€t des denkwĂŒrdi-
gen Menschen verdrĂ€ngte und die Wissenschaften vom Menschen möglich wurden â da setz-
ten sich eine neue Technologie der Macht und eine andere politische Anatomie des Körpers
durch. Und wenn vom Mittelalter bis heute das âAbenteuerâ die ErzĂ€hlung von der IndividualitĂ€t
kennzeichnet, so verweisen doch die ĂbergĂ€nge vom Epos zum Roman, von der GroĂtat zur
heimlichen Besonderheit, von den langen Irrfahrten zur inneren Suche nach der Kindheit, von
den KĂ€mpfen zu den Phantasmen auf die Formierung einer Disziplinargesellschaft. Es sind die
UnglĂŒcke des kleinen Hans und nicht mehr die von HĂ€nschen klein, die das Abenteuer unserer
Kindheit erzÀhlen. Der Rosenroman wird heute von Mary Barnes geschrieben. Den Platz des
Ritters Lanzelot nimmt der GerichtsprĂ€sident Schreber ein.â
23 An Walters Berufung auf den ârömisch-katholischen Geistlichenâ, der âheuteâ als einziger noch
so aussehe, âwie er sollteâ, wĂ€hrend sonst eine âunpersönlicheâ Denkweise ĂŒberhandnehme
(MoE 64), lÀsst sich exemplarisch die Verwechslung von individueller Persönlichkeit und Ak-
zeptanz eines Rollencharakters veranschaulichen.
24 Vgl. MoE 54 : âDas Bild, das er entwarf, befreite ihn wie das Gelingen eines Kunstwerks ; nicht
er stellte es aus sich hinaus, sondern an das geheimnisvolle Gelingen eines Anfangs geknĂŒpft,
hatte sich auĂen Wort an Wort gesetzt, und in seinem Inneren löste sich dabei etwas auf, das
ihm nicht bewuĂt wurde.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208