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175Grundbegriffe
des Romankonzepts
meint Walter zu erkennen, âdaĂ Ulrich nichts ausdrĂŒcke als dieses aufgelöste
Wesen, das alle Erscheinungen heute habenâ (MoE 65). Seine vermeintliche
Diskreditierung des Jugendfreunds vor seiner Frau entspricht freilich genau
Ulrichs eigenem SelbstverstÀndnis, wie Clarisse treffend bemerkt :
Er sagt, alles ist jetzt steckengeblieben, nicht nur er. Aber er nimmt es nicht so ĂŒbel
wie du. Er hat mir einmal eine lange Geschichte erzÀhlt : Wenn man das Wesen von
tausend Menschen zerlegt, so stöĂt man auf zwei Dutzend Eigenschaften, Empfin-
dungen, Ablaufarten, Aufbauformen und so weiter, aus denen sie alle bestehn. Und
wenn man unseren Leib zerlegt, so findet man nur Wasser und einige Dutzend Stoff-
hĂ€ufchen, die darauf herumschwimmen. [âŠ] Zum SchluĂ bleiben ĂŒberhaupt nur For-
meln ĂŒbrig. Und was die menschlich bedeuten, kann man nicht recht ausdrĂŒcken ; das
ist das Ganze. (MoE 66)
Ein Mann ohne Eigenschaften ist demnach ein Mensch, der sich von der
ĂŒberkommenen Vorstellung des in sich konsistenten und konstanten, mit sich
selbst identischen und freien bzw. selbstbestimmten Subjekts angesichts der
wissenschaftlichen Erkenntnisse der Moderne verabschiedet hat und der in
dieser Verabschiedung einer konventionellen Anthropologie keine negativ
zu bewertende Entwicklung sieht. Ulrichs gleichsam programmatische Ak-
zeptanz der eigenen âEigenschaftslosigkeitâ, durch die er sich von fast allen
anderen Romanfiguren augenfÀllig unterscheidet, bewirkt in paradoxer Weise
gerade die relative Freiheit seines Denkens und Handelns sowie den Anschein
von dessen besonderer âAuthentizitĂ€tâ, was sich keineswegs auf eine wie im-
mer geartete âEigentlichkeitâ zurĂŒckfĂŒhren lĂ€sst.25 So beschĂ€ftigt er sich seit
seiner Jugend mit der Frage, âwarum alle uneigentlichen und im höheren Sinn
unwahren ĂuĂerungen von der Welt so unheimlich begĂŒnstigt werdenâ, und
beantwortet sie fĂŒr sich ganz unleidenschaftlich und gut nietzscheanisch :
25 Dagegen meint Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 285, Musils (tatsÀch-
lich doch eher âsentimentalischerâ als ânaiverâ !) Mann ohne Eigenschaften sei âein nicht gar so
ferner Verwandter von Rousseaus âhomme naturelâ, der auch schon den Traum einer restitutio
ad integrum verkörpert : einer ursprĂŒnglichen, ganzheitlichen und deshalb schöpferischen Exi-
stenz, die nicht unter dem Zwang zivilisatorischer Wirklichkeit sich selbst entfremdet istâ. Die in
solchen Worten anklingende topische und polemische Dichotomie zwischen moderner (west-
licher) âZivilisationâ (ebd.) und scheinbar âunentfremdeterâ (deutscher ?) âNaturâ bzw. âKulturâ,
die sich mehr einer forcierten ideengeschichtlichen Kontextualisierung (neben Rousseau wird
auch Hölderlin angefĂŒhrt) als den Intentionen und Texten Musils verdankt, ist Letzterem fremd
und gereicht ihm im Mund seiner Romanfiguren â etwa Walters, Arnheims oder Diotimas â
allenfalls zum Anlass erzÀhlerischen Spotts ; vgl. dazu Wefelmeyer : Kultur und Literatur, bes.
S. 202â206.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208