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179Grundbegriffe
des Romankonzepts
Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie
eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren VergnĂŒgungen, ihrer Weltanschau-
ung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Ge-
fĂŒhl, daĂ sich nun nicht mehr viel Ă€ndern kann. Es lieĂe sich sogar behaupten, daĂ sie
betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafĂŒr
entdecken, daà alles gerade so kam, wie es gekommen ist ; es hÀtte auch anders kom-
men können ; die Ereignisse sind ja zum wenigsten von ihnen selbst ausgegangen,
meistens hingen sie von allerhand UmstÀnden ab, von der Laune, dem Leben, dem
Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloĂ im gegebenen Zeitpunkt auf
sie zugeeilt. So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Morgen
vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeit und Nichts, und schon am Mittag
ist mit einemmal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das
ist im ganzen doch so ĂŒberraschend, wie wenn eines Tags plötzlich ein Mensch da-
sitzt, mit dem man zwanzig Jahre lang korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und
man hat ihn sich ganz anders vorgestellt. Noch viel sonderbarer aber ist es, daĂ die
meisten Menschen das gar nicht bemerken ; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen
gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen
ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst
oder UnglĂŒck. (MoE 130 f.)
WĂ€hrend etwa Clarisse am eigenen Leben beobachtet, wie das bestehende
Dasein âmit einemmal ihr zu eigen geworden [war], wie Fleisch von ihrem
Fleischeâ (MoE 145), weigert sich der Romanheld Ulrich hartnĂ€ckig, sein exis-
tenziell kontingentes habituelles âGewordenseinâ nach dem herkömmlichen
Muster als Ausdruck essenzieller âEigenschaftlichkeitâ misszuverstehen. Auf
diese Weise wird das romankonstitutive Konzept der âEigenschaftslosigkeitâ
nicht nur performativ in der Figurengestaltung des ErzÀhlers entfaltet, son-
dern auch kognitiv in der Selbstwahrnehmung des mÀnnlichen Protagonisten,
wodurch Musil ein Strukturmerkmal des âindividualisierendenâ Romans des
18. und 19. Jahrhunderts30 aufgreift und in charakteristischer Weise wendet :
Wenn Ulrich hÀtte sagen sollen, wie er eigentlich sei, er wÀre in Verlegenheit gera-
ten, denn er hatte sich so wie viele Menschen noch nie anders geprĂŒft als an einer
Aufgabe und im VerhĂ€ltnis zu ihr. Sein SelbstbewuĂtsein war weder beschĂ€digt wor-
den, noch war es verzĂ€rtelt und eitel, und es kannte nicht das BedĂŒrfnis nach jener
30 Vgl. Bauer : Die âAuflösung des anthropozentrischen Verhaltensâ im modernen Roman, S. 681 :
âDie genaue Individualisierung wirkt sich nicht nur in der Zeichnung des Charakters durch den
Dichter, sondern auch im SelbstbewuĂtsein der erdichteten Figur aus.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208