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181Grundbegriffe
des Romankonzepts
chemachende Formel von der âedlen Einfalt und stillen GröĂeâ des ruhenden
Helden selbst im gröĂten Schmerz, die dessen absolutes Bei-sich-Sein ver-
bĂŒrgen sollte, scheint hier gegenstandslos geworden â von einer âgroĂen und
gesetzten Seeleâ ganz zu schweigen32 â, denn das Ich ist beim besten Willen
nicht mehr intrinsisch bestimmbar. Im Bewusstsein solcher ImponderabilitÀt
gelangt der depotenzierte Romanheld selbst zu einem salomonischen Fazit :
â[M]it einemmal muĂte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lĂ€chelnd ein-
gestehn, daĂ er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu
haben.â (MoE 150) Folgt man dieser ironischen Formulierung, dann meint
âCharakter seinâ offenbar die FĂ€higkeit zu einem als eigenstĂ€ndig identifizier-
baren, unkonventionellen Denken und Handeln, wĂ€hrend âCharakter habenâ
gleichbedeutend mit der Akzeptanz vorgegebener Eigenschaften wĂ€re â also
mit dem Verzicht auf jene intellektuelle EigenstÀndigkeit und Freiheit, die aus
der ontologischen ArbitraritÀt des Habitus entspringt.
Dass es sich beim Romanhelden hingegen keineswegs um eine blasse, cha-
rakterlich kaum konturierte oder gar um eine gÀnzlich charakterlose Figur
handelt, wird vom ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich bestĂ€tigt : âEs ist nicht schwer, die-
sen zweiunddreiĂigjĂ€hrigen Mann Ulrich in seinen GrundzĂŒgen zu beschrei-
ben, auch wenn er von sich selbst nur weiĂ, daĂ er es gleich nah und weit
zu allen Eigenschaften hÀtte und daà sie ihm alle, ob sie nun die seinen ge-
worden sind oder nicht, in einer sonderbaren Weise gleichgĂŒltig sind.â (MoE
151) Diese Selbstwahrnehmung ist freilich nur die individuelle Kehrseite jener
allgemeinen Eigenschaftsproblematik, die im Gefolge der Gestaltlosigkeitser-
fahrung des Ersten Weltkriegs besonders virulent erschien, aber nicht wirklich
gelöst werden konnte. Eine Antwort âauf die alte empiristische Frage nach der
Existenz eines nicht auf die Rhapsodie der Einzelempfindungen reduzierbaren
Ichsâ33, die Musil schon in seiner Mach-Dissertation umgetrieben hat, ist letzt-
lich wohl nur unter RĂŒckgriff auf psychologische oder soziologische Theorie-
bestÀnde sinnvoll zu leisten. Die durchaus konkreten sozialpsychologischen
Voraussetzungen und Implikationen der charakteristischen Figurenkonstitu-
tion Ulrichs â seines spezifischen Habitus â werden im Verlauf der vorliegen-
den Untersuchung noch zum Gegenstand ausfĂŒhrlicher Erörterung.34
32 Vgl. Winckelmann : Gedancken ĂŒber die Nachahmung der Griechischen Wercke, S. 43 : âDas
allgemeine vorzĂŒgliche Kennzeichen der Griechischen MeisterstĂŒcke ist endlich eine edle Ein-
falt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres
allezeit ruhig bleibt, die OberflĂ€che mag noch so wĂŒten, eben so zeiget der Ausdruck in den
Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.â
33 Bourdieu : Die biographische Illusion, S. 77 f.
34 Vgl. den Abschnitt zu Ulrich in Kap. II.2.1.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208