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182 Teil I: Grundlegung
Am 15. MĂ€rz 1931, wenige Monate nach dem Erscheinen des Ers-
ten Buchs seines groĂen Romans, zeigt sich Musil in einem Brief an den
Freund Johannes von Allesch âsehr ĂŒberrascht davonâ, dass er mit dem
Mann ohne Eigenschaften âscheinbar einen Zeittypus getroffen habe.â Er
fĂ€hrt fort : âNatĂŒrlich sind die MĂ€nner mit Eigenschaften manchmal auch
etwas darĂŒber erstaunt, daĂ sie keine haben sollen.â (Br 1, 504 f.) Auf diese
Weise benennt Musil einerseits die damalige Virulenz der zentralen The-
matik seines Romans im Sinne einer allgemein âdĂ€mmernden Erkennt-
nis der notwendigen Charakterlosigkeit des heutigen Menschenâ (GW 8,
1247), wie er spÀter in der Rede Der Dichter in dieser Zeit (1934) formuliert,
und bringt andererseits das terminologisch nicht ganz einfach zu lösende
Problem der âEigenschaftslosigkeitâ noch einmal auf den entscheiden-
den Punkt : Was ist mit diesem negativen Terminus angesichts der doch
durchaus zahlreichen positiv benennbaren charakterlichen Eigenschaften
sĂ€mtlicher Musilâscher Romanfiguren â einschlieĂlich des mĂ€nnlichen
Protagonisten â âeigentlichâ gemeint ? DarĂŒber hinaus stellt sich die Frage,
inwiefern ein âeigenschaftsloserâ Mensch â was immer das im Einzelnen
sei â einem âZeittypusâ der Moderne im Allgemeinen oder genauer der
beginnenden dreiĂiger Jahre entspricht.
Die vorliegende Untersuchung hat das Thema âEigenschaftslosigkeitâ be-
reits in der Diskussion um die âmenschliche Gestaltlosigkeitâ gestreift. Zur
Charakter- oder Eigenschaftslosigkeit Ă€uĂert sich Musil aber nicht allein in
Das hilflose Europa oder Der deutsche Mensch als Symptom, sondern auch in
anderen Essays und kurzen ProsastĂŒcken und eben vor allem in den essay-
istischen Passagen seines groĂen Romans. In dem schon mehrfach zitierten
Interview mit Alfred Polgar (1926) erlÀutert er etwa in psychologischer Hin-
sicht : âFreilich ist keinen Charakter haben eine Talentfrage wie alles andere ;
unbegabte Menschen macht es zu Lumpen, [âŠ] und in seiner höchsten Form
[âŠ] mĂŒndet es in einen geistigen Dadaismus, der Ă€uĂerst lebensgefĂ€hrlich,
aber auch reizvoll ist.â (GW 8, 1156) Zu einem solchen âgeistigen Dadaistenâ
heiĂt es weiter : â[U]nter den FĂŒĂen hat er ein festes StĂŒck Erkenntnis von
der Unfestheit des Lebens, das nicht mehr wegzubringen ist.â (GW 8, 1156)
Diesen âgeistigen Dadaismusâ kann sich Musils intellektueller Roman zunutze
machen, denn, wie dessen ErzĂ€hler ausfĂŒhrt : âEs sind die fertigen Eintei-
lungen und Formen des Lebens, was sich dem MiĂtrauen so spĂŒrbar macht,
das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige
Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und GefĂŒhle.â
(MoE 129) In einigen Untersuchungen zu Musils Roman wurde die Kategorie
der âEigenschaftslosigkeitâ denn auch konsequent und ĂŒberzeugend als âAus-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208