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183Grundbegriffe
des Romankonzepts
druck einer Verweigerungâ35 gegenĂŒber dem âheteronomen gesellschaftlichen
Funktionszusammenhangâ36 sozialer Rollen und den ihnen innewohnenden
ZwÀngen gedeutet. Der Rekurs der Àlteren Musil-Forschung auf den erst in
den dreiĂiger Jahren formulierten soziologischen Rollenbegriff37 beruht frei-
lich auf einem terminologischen Anachronismus (vgl. allerdings MoE 205,
259, 364 u. 429 f.), dessen konzeptionelle Aporien durch die begriffliche Dif-
ferenzierung zwischen âRolleâ und âHabitusâ aufgelöst werden können, wie im
Folgenden zu zeigen sein wird.
Musil selbst thematisiert im Mann ohne Eigenschaften die unterschiedli-
chen sozialen Rollen und psychischen Schichten, in die sich der âgestaltloseâ
Mensch in der ausdifferenzierten modernen Welt parzelliert, am Beispiel des
idealtypischen Kakaniers, ĂŒber den der ErzĂ€hler rĂ€soniert :
[E]in Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen Natio-
nal-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen
bewuĂten, einen unbewuĂten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter ; er
vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine,
von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus
der sie wieder austreten, um mit andern BĂ€chlein eine andre Mulde zu fĂŒllen. (MoE
34)
Die âEigenschaftslosigkeitâ beruht dergestalt auf einer VerselbstĂ€ndigung der
Rollen38, âdie der Einzelne in sich vereinigtâ und die ihn gleichzeitig in seine
Bestandteile auflösen. âDie von ihnen abhĂ€ngige IndividualitĂ€t wird als Mulde
35 Menges : Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 23.
36 Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 9 ; vgl. auch Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose,
S. 41â53, bes. S. 46.
37 Vgl. dazu Dahrendorf : Homo Sociologicus, passim, Zit. S. 33 : âSoziale Rollen sind BĂŒndel von
Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der TrÀger von Positio-
nen knĂŒpfen.â Mehr dazu ebd., S. 35. Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 9, bezieht sich darauf
und schlieĂt daraus, âdaĂ eine Rolle nicht an die jeweils in ihr handelnde Person, sondern an
eine soziale Position gebunden ist. Personen sind im Rollenvollzug prinzipiell austauschbar. Sie
treten lediglich als TrÀger bestimmter, durch ein vorgegebenes soziales Feld definierter Positi-
onsmerkmale auf, die sie dessen Handlungserwartungen entsprechend in Funktionsleistungen
umsetzen. Weil der Rolleninhalt primÀr nicht von ihnen, sondern vom jeweiligen sozialen Be-
zugssystem festgelegt wird, lösen die Rollen bestimmte Eigenschaften von den Personen und
stellen sie in einen heteronomen gesellschaftlichen Funktionszusammenhang.â
38 Wie Dahrendorf : Homo Sociologicus, S. 80, dazu anerkennend bemerkt, ânimmt der Dichter
Musil hier dem Soziologen die Einsicht in die Struktur seines Gegenstandes vorwegâ, ja zeich-
net ihm im weiteren Verlauf der Passage zusĂ€tzlich noch âdie Grenzen seiner Methode vorâ. Vgl.
Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 34 u. 229.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208