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189Grundbegriffe
des Romankonzepts
entbehrt er aber nicht zugleich eines charakteristischen Habitus, im Gegen-
teil : Gerade die Distanz gegenĂŒber dem âRollenzwangâ ist Teil seiner eige-
nen habituellen Disposition, die âihn als Intellektuellen charakterisiertâ, wel-
cher seinerseits âder scholastischen Illusion von der Distanz gegenĂŒber allen
Postenâ anhĂ€ngt, der gegenĂŒber er ânicht mehr Distanz [âŠ] aufweist als der
Kellner gegenĂŒber de[r] seinenâ.60 Der Rekurs auf die konzeptionelle Unter-
scheidung zwischen âRolleâ und âHabitusâ erlaubt es, die spezifische Signatur
der âEigenschaftslosigkeitâ Ulrichs historisch und soziologisch trennscharf zu
bestimmen und auf ihren sozialen Kontext zu beziehen. Die scheinbare Mög-
lichkeit eines jederzeitigen âRollenwechselsâ erweist sich zuletzt tatsĂ€chlich
als intellektuelle ChimÀre61, die zwar reflexive FreirÀume eröffnet, selbst je-
doch durchaus standortgebunden ist und damit auch sozialen Begrenzungen
unterliegt. WĂ€hrend diese Problematik des modernen Intellektuellen in rein
begrifflich-diskursiven Gesellschaftsanalysen meist ein blinder Fleck bleibt, da
der kritische Blick zwar alle gesellschaftlichen Strukturen, Diskurse und Prak-
tiken erfassen kann, die soziale Möglichkeitsbedingung der eigenen Position
aber unreflektiert voraussetzt, wird sie in Musils Roman nicht eskamotiert, wie
es den Anschein haben mag, sondern im Gegenteil exemplarisch entwickelt
und problematisiert.62
Die quasi soziologische (Selbst-)Objektivierung der eigenen intellektuellen
Position im Medium seines romanesken Protagonisten63 erlaubt es Musil, auf
der symbolischen Ebene seines literarischen Diskurses die sozialen Existenz-
bedingungen jener geistigen Freiheit zu analysieren, die historisch durch den
von Foucault als machtimprÀgniert inkriminierten Individualisierungsprozess
erst ermöglicht wurde, ohne auf der anderen Seite der totalen und letztlich
wiederum romantischen Vorstellung einer absoluten Freiheit im Bereich des
Literarischen bzw. Symbolischen anheimzufallen. Im Unterschied zu einer
rein diskursanalytischen Untersuchung der Macht werden die gesellschaft-
lichen Diskurse in der erzĂ€hlerischen Sozioanalyse nicht nur ausschlieĂlich
diskursiv â also auf sprachlicher Ebene â perspektiviert und kritisiert, sondern
zudem auf ihre sozialen Voraussetzungen hin transparent gemacht. Intellek-
tuelle Freiheit erscheint mit Bourdieu â und, wie sich zeigt, bereits mit Musil
â nie als âreineâ Verneinung im Sinne einer voraussetzungslosen Opposition
60 Bourdieu : Meditationen, S. 198.
61 Vgl. Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 9 f.
62 Vgl. dazu die AusfĂŒhrungen ĂŒber Ulrich in Kap. II.2.1 sowie ĂŒber Ulrich und SchmeiĂer in Kap.
II.3.2.
63 Vgl. dazu das Kap. III.2.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208