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190 Teil I: Grundlegung
gegen die herrschende RealitÀt. Indem stattdessen die kritische Position selbst
im positiven Sinn als machtdeterminiert begriffen wird, lÀsst sich die Illusion
einer in radikal negativer Haltung begrĂŒndeten absoluten intellektuellen und
sprachspielerischen Freiheit und einer daraus resultierenden ethischen âRein-
heitâ des âGeistesmenschenâ als solche offenlegen. Auf diese Weise kann die
seit Nietzsche gÀngige Kritik aller gesellschaftlich legitimierten Diskurse selbst
reflexiv eingeholt werden, ohne dass die Analyse wiederum auf einen obsole-
ten Subjekt- oder Eigenschaftsbegriff zurĂŒckgreifen mĂŒsste, wie das bei ande-
ren Nietzsche-Adaptationen des frĂŒhen 20. Jahrhunderts â etwa im George-
Kreis â hĂ€ufig der Fall gewesen ist. Deutlich wird diese doppelte Perspektive
im Roman etwa am existenziellen UngenĂŒgen, welches Ulrich ob seiner âRol-
lenlosigkeitâ immer wieder so stark empfindet, dass er bisweilen âsogar einen
Geisteskranken um seine Zwangsvorstellungen und den Glauben an seine
Rolleâ beneidet (MoE 652). Er spaltet sich deshalb in â[z]wei Ulricheâ auf,
deren einer souverĂ€n âlĂ€chelndâ die Verweigerungspose einnimmt64, wĂ€hrend
der andere verzweifelt âdie FĂ€uste geballtâ hĂ€lt ; er, âder weniger sichtbareâ,
sucht âeine Beschwörungsformelâ, âeinen Griff, den man vielleicht packen
könnte, den eigentlichen Geist des Geistes, das fehlende, vielleicht nur kleine
StĂŒck, das den zerbrochenen Kreis schlieĂt.â Und im Unterschied zum sprach-
mĂ€chtigen âerstenâ Ulrich hat der âzweiteâ bezeichnenderweise âkeine Worte
zu seiner VerfĂŒgung.â (MoE 155)
Den Mann ohne Eigenschaften hat man sich also als âgeistigen Dadaistenâ
im Sinne programmatischer âRollenverweigerungâ65 vorzustellen, dem es im
Unterschied zu âden meisten Menschenâ keine âAnnehmlichkeit und Unter-
stĂŒtzung bedeutet, die Welt bis auf ein paar persönliche Kleinigkeiten fertig
vorzufindenâ (MoE 130) â was aber eben nicht heiĂt, dass die Verweigerungs-
haltung im Romankontext rĂŒckhaltlos propagiert werden wĂŒrde. Das PhĂ€no-
men âEigenschaftslosigkeitâ erscheint einerseits zumindest vorderhand sogar
als charakteristischer psychischer Defekt, auf den sich manche âideologiekri-
64 Vgl. Ulrichs Erinnerung : âDa habe ich also einmal eine Rolle spielen wollen, zwischen solchen
Kulissen wie diesen. Ich bin eines Tags erwacht, nicht weich wie in Mutters Körbchen, sondern
mit der harten Ăberzeugung, etwas ausrichten zu mĂŒssen. Man hat mir Stichworte gegeben,
und ich habe gefĂŒhlt, sie gehen mich nichts an. Wie von flimmerndem Lampenfieber war da-
mals alles mit meinen eigenen VorsĂ€tzen und Erwartungen ausgefĂŒllt gewesen. Unmerklich hat
sich aber inzwischen der Boden gedreht, ich bin ein StĂŒck meines Wegs voran gekommen und
stehe vielleicht schon beim Ausgang. Ăber kurz wird es mich hinausgedreht haben, und ich
werde von meiner groĂen Rolle gerade gesagt haben : âDie Pferde sind gesattelt.â Möge euch alle
der Teufel holen !â (MoE 155)
65 Menges : Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 23.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208