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207Grundbegriffe
des Romankonzepts
Zusammenhang116 hat Implikationen fĂŒr das Genre des Romans ganz gene-
rell. Wenn man nĂ€mlich mit Bourdieu annimmt, dass die âromaneske Illusion,
die in ihren radikalsten Formen [âŠ] bis zur völligen Abschaffung der Grenze
zwischen RealitĂ€t und Fiktion gehen kannâ, âihre Grundlage in der Erfahrung
der RealitĂ€t als Illusionâ hat117, dann erweist sich Musils Konzept des âMög-
lichkeitssinnsâ als ihr Reflexionsmedium katexochen. Dieser Sinn radikalisiert
die von Flaubert erzÀhlerisch gestaltete UnfÀhigkeit Frédérics, das Reale ernst
zu nehmen, und hebt die individuelle negative Eigenschaft des Flaubertâschen
Protagonisten durch ihre begriffliche Kondensation auf das Niveau eines allge-
meinen Problems : Musil zufolge muss die Wirklichkeit selbst jenseits aller in-
nerdiegetischen Motivierung singulÀrer RealitÀtsverweigerungen als eigentli-
cher Reflexionsgegenstand des Romans erscheinen. Analytisch durchleuchtet
wird somit nicht nur das menschliche Vermögen, das als illusio den Glauben
an eine bestimmte soziale RealitĂ€t erzeugt, sondern auch jenes, das der âErfin-
dungâ und nachfolgenden Hypostasierung von RealitĂ€t ĂŒberhaupt zugrunde
liegt. Die im Roman dargestellte Wirklichkeit erscheint bei Musil deshalb
nicht mehr bloĂ als defizientes, weil historisch korrumpiertes Ensemble prin-
zipiell bejahenswerter gesellschaftlicher Möglichkeiten wie noch bei Flaubert,
sondern ganz grundsĂ€tzlich als zutiefst fragwĂŒrdige EntitĂ€t.118
Ein weiteres, gleichsam anthropologisches Merkmal der âromanesken
Illusionâ besteht darin, dass sie âdie Adoleszenz als das romaneske Alter
schlechthinâ119 erscheinen lĂ€sst. Entsprechendes ist auch Musil bewusst, wie
im berĂŒhmten Essayismus-Kapitel I/62 eine rĂŒckblickende Reflexion Ulrichs
ĂŒber sein WeltverhĂ€ltnis als Jugendlicher zeigt, die in die oben bereits zitierte
Sentenz ĂŒber die Unfestigkeit der Ordnungen des Lebens mĂŒndet :
Aus der frĂŒhesten Zeit des ersten SelbstbewuĂtseins der Jugend [âŠ] waren heute
noch allerhand einst geliebte Vorstellungen in seiner Erinnerung vorhanden, und
116 Vgl. aber Bouveresse : Das âPrinzip des unzureichenden Grundesâ, S. 111â116 u. 129â135.
117 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 68 f.
118 Vgl. dazu auch den Eintrag ins Arbeitsheft 2 : âBei der LektĂŒre von Balzac : Seine Typen ge-
winnen nur dadurch Bedeutung, daà er an die Bedeutung der AtmosphÀre glaubt, in der sie
leben. (Diese politisch ehrgeizigen JĂŒnglinge, die eine hochstehende Geliebte suchen, diese
Journalisten usw.) Von und fĂŒr Paris zu schreiben : gleiche Sicherheit wie der besten Gesell-
schaft anzugehören. Diese Sicherheit ist das gute Gewissen des Abschilderers. Ein solches
Lebenswerk fÀnde diesen Motor heute nicht mehr. An seine Statt gehört die subjektive philo-
sophische Formel des Lebens. Zum Beispiel Zynismus-Ideal wie bei den âSchwĂ€rmernâ. In sie
ist jede Figur zu tauchen. Dann entsteht eine AtmosphÀre um die Figuren, als ob sie aus einem
charakteristischen Leben herausgegriffene Typen wĂ€ren.â (H 2/60)
119 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 69.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208