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210 Teil I: Grundlegung
Einen merklich kritischeren Beigeschmack erhÀlt dieser kulturhistorische Ab-
straktionsprozess durch die Darstellung, die LĂ©vy-Bruhl in seinem von Musil
begeistert aufgenommenen Buch Das Denken der Naturvölker gibt :
Der Fortschritt des abstrakten und begrifflichen Denkens wird von einer Verminde-
rung des beschreibenden Wort- und Zeichenmaterials begleitet, das ehemals zum
Ausdruck des Denkens, als es konkreter war, gedient hat. [âŠ] Die wachsende Allge-
meinheit der Begriffe lĂ€Ăt sie allmĂ€hlich die Genauigkeit, die fĂŒr sie charakteristisch
war, als sie vor allem Bilder, Zeichnungen und stimmliche GebÀrden und dies alles
zugleich waren, verlieren.125
Genau diese Passage hat Musil (in leicht gekĂŒrzter Form) in seinem Arbeits-
heft 21 exzerpiert und dabei die von LĂ©vy-Bruhl diagnostizierte âfortschrei-
tende Verarmung, die die Regel istâ126, folgendermaĂen kommentiert : âDiesen
ProzeĂ machen wir heute nicht nur mit Worten durch, die Seelisches aus-
drĂŒcken, sondern es findet ein TypisierungsprozeĂ der SĂ€tze statt, die in den
verschiedensten (nachlÀssig und falsch angewendeten) Formen nur einen all-
gemein plausiblen Teil ihres Sachverhalts ausdrĂŒcken.â (Tb 1, 627) Das es-
sayistische ErzÀhlkonzept des Mann ohne Eigenschaften sucht nun gemÀà der
Denkhaltung seines Protagonisten ebenjene (aus sprachlicher NachlÀssigkeit
resultierende) darstellerische Reduktion auf âeinen allgemein plausiblen Teilâ
des ausgedrĂŒckten âSachverhaltsâ zu vermeiden, indem es âein Ding von vie-
len Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassenâ (MoE 250). Musil zieht damit
eine Konsequenz aus der im Essay AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik (1925) angestell-
ten Betrachtung, dass âdas abstrakte Denken seinem Wesen nach eine formel-
hafte VerkĂŒrzung ist ; jeder Begriff bedeutet das, und je allgemeiner die Begriffe
sind, desto leerer sind sie von besonderem Inhalt.â (GW 8, 1152) Der feste
und allgemeine Begriff als methodische Grundlage systematisch-philosophi-
scher Reflexion erscheint vor diesem Hintergrund desavouiert127 ; als essay-
istischer Denker ĂŒbt sich Ulrich stattdessen in der unablĂ€ssigen Bildung von
partiellen Ansichten und beweglichen Relationen :
125 Lévy-Bruhl : Das Denken der Naturvölker, S. 149.
126 Ebd.
127 Vgl. auch Frank : Auf der Suche nach einem Grund, S. 322, unter Verweis auf GW 8, 1027 :
âDer Begriff, dessen Anwendung das Erfahrungsmaterial unter einen Gesichtspunkt bringt und
gesetzmĂ€Ăig anordnet, erfaĂt niemals die FĂŒlle des Erfahrbaren, die die âFormelâ wie ein Sieb
durchflutet ; die Grundlagen der theoretischen Systeme sind logisch oder empirisch ungesi-
chertâ.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208