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217Grundbegriffe
des Romankonzepts
der Bewegten einen âInhaltâ abzugewinnen ; es bleibt von allem ungefĂ€hr so viel ĂŒbrig
wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser
gehoben und in Sand gelegt hat. Die Lehre der Ergriffenen zerfÀllt in der Vernunft
der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn, und doch darf man sie nicht
eigentlich zart und lebensunbestÀndig nennen, da man sonst auch einen Elefanten zu
zart nennen mĂŒĂte, um in einem luftleeren, seinen LebensbedĂŒrfnissen nicht entspre-
chenden Raum auszudauern. (MoE 254)
Charakteristisch fĂŒr Musils Poetik des Essayismus ist dabei der noch nĂ€her
zu ergrĂŒndende Verweis auf die konkreten menschlichen âLebensbedĂŒrfnisseâ,
denen die essayistische Reflexion â im Unterschied zur unpersönlichen und
abstrakt-begrifflichen der Wissenschaft, aber in auffallender Ăbereinstimmung
mit der dichterischen Sprache â jeweils zu entsprechen hat.
An dieser Stelle sei jedoch nicht der ironische Umstand unterschlagen, dass
das sich wissenschaftskritisch gebende hypothetische WirklichkeitsverhÀltnis
Ulrichs selbst aus Bestrebungen zeitgenössischer Wissenschaft abgeleitet wer-
den kann. So findet sich seine Konzeption des Möglichkeitssinns bereits in
Musils philosophischer Doktorarbeit Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs
(1908) angelegt, welche die von ihr geteilte âskeptische Auffassungâ wissen-
schaftlicher Begriffsbildung folgendermaĂen umreiĂt :
Es ist ja nahegelegt : wenn die Gebilde der Wissenschaft in ihrem Werden von psy-
chologischen, individuellen EinflĂŒssen und ZufĂ€lligkeiten abhĂ€ngig sind und wenn
selbst der durch die Tatsachen gegebene Faktor der Anpassung je nach der zufÀlligen
Konstellation [âŠ] die Entwicklung in voneinander ganz verschiedene Richtungen
lenken kann, es ist nahegelegt, daĂ dann das Produkt solcher Anpassung, die Wis-
senschaft, nichts sei, das etwa nur so und nicht anders sein könnte. Vielmehr lĂ€Ăt
die Anpassung, ohne daĂ sie deswegen schon ihren praktischen Zweck zu verfehlen
brauchte, erfahrungsgemÀà ihren Ergebnissen einen gewissen Spielraum ; ist nun all
das, was unser Naturwissen ausmacht, bloĂ ein solches Anpassungsprodukt, dann ist
es nichts eindeutig Bestimmbares, vielmehr nur ein, lediglich historisch verÀnder-
liches, Ergebnis neben anderen möglichen [âŠ]. (BLM 34)
Aus solchen skeptischen Ăberlegungen zieht der junge Musil eine radikale
Konsequenz, welche die Grundlage der Möglichkeit von Erkenntnis ĂŒber-
haupt betrifft :
[D]ies aber könnte man in Widerspruch mit der gewöhnlichen Meinung zu setzen
versuchen, die von den Ergebnissen der Naturwissenschaft Wahrheit verlangt, d. h.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208