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219Grundbegriffe
des Romankonzepts
Nicht minder deutlich als von der systematischen und abstrakten begriffs-
logischen Reflexion grenzt sein ErzÀhler den Essayismus allerdings von einer
irrationalistischen Hermetik oder sentimentalen GefĂŒhlsduselei ab :
Es wÀre sehr zu beklagen, wenn diese Beschreibungen den Eindruck eines Geheim-
nisses hervorrufen wĂŒrden oder auch nur den einer Musik, in der die HarfenklĂ€nge
und seufzerhaften Glissandi ĂŒberwiegen. Das Gegenteil ist wahr, und die ihnen zu-
grunde liegende Frage stellte sich Ulrich durchaus nicht nur als Ahnung dar, sondern
auch ganz nĂŒchtern in der folgenden Form : Ein Mann, der die Wahrheit will, wird
Gelehrter ; ein Mann, der seine SubjektivitÀt spielen lassen will, wird vielleicht Schrift-
steller ; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt ? (MoE 254)
Nach Frey besteht genau im apostrophierten und relativ unbestimmt belas-
senen âDazwischenâ jener âBereich der Lebenshaltungâ148, den Musil â auch
inhaltlich ĂŒbrigens sichtbar in der Tradition Montaignes149 â âEssayismusâ
nennt. Aus den zuletzt zitierten Worten seines ErzÀhlers spricht die von ihm
so hĂ€ufig beanspruchte Gedankenfigur der doppelten Distinktion gegenĂŒber
einer vorfindlichen, aber unbefriedigenden Alternative, âeine Strategie der
Beweglichkeitâ, âdie, auf das Postulat einer dritten Position ausgerichtet, der
dichotomischen Denk- und Konstruktionsweise den Boden entziehenâ soll150
â nach dem programmatischen Motto : tertium datur ! Musils Argumentation
gegen ein striktes Entweder-Oder-Denken151 ist unter den seinerzeit avancier-
ten Autoren durchaus zeittypisch und Àhnelt hier strukturell dem von Kafka
fast zwanzig Jahre zuvor artikulierten âWiderwillen gegen Antithesenâ152 bzw.
der daraus resultierenden â[b]esondere[n] Methode des Denkensâ, die in
dessen âgefĂŒhlsmĂ€Ăiger Durchdringungâ liege und zu folgender Konsequenz
148 Frey : Musils Essayismus, S. 233.
149 Vgl. Howes : Ein Genre ohne Eigenschaften, S. 3â7 ; Genaueres ĂŒber Montaignes Essayismus
und EssayismusverstĂ€ndnis findet sich in Friedrich : Montaigne, S. 26â28 u. 305â337.
150 Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 174 ; vgl. auch Bouveresse : Genauigkeit und Lei-
denschaft, S. 3 f.
151 Vgl. dazu den kurzen Essay Moralische Fruchtbarkeit (1913), in dem Musil (mit Nietzsche) ge-
gen die âdiametrale GegenĂŒbersetzungâ von Gut und Böse argumentiert, die âeinem frĂŒheren
Denkzustandâ entspreche, der âvon der Dichotomie alles erhoffteâ und âwenig wissenschaft-
lichâ sei (GW 8, 1002 f.).
152 So der Eintrag vom 20. November 1911 in Kafka : TagebĂŒcher, S. 259 f.: âSie erzeugen zwar
GrĂŒndlichkeit, FĂŒlle, LĂŒckenlosigkeit[,] aber nur so[,] wie eine Figur im Lebensrad ; unsern
kleinen Einfall haben wir im Kreis herumgejagt. So verschieden sie sein können, so nuancenlos
sind sie, wie von Wasser aufgeschwemmt wachsen sie einem unter der Hand, mit der anfÀngli-
chen Aussicht ins Grenzenlose und mit einer endlichen mittlern immer gleichen GröĂe.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208