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228 Teil I: Grundlegung
fĂŒhls des UngenĂŒgensâ bildet, âdaĂ auf jede Antwort eine neue Frage möglich
ist, daĂ jeder Standpunkt nur eine Ecke in einem Polygon von Standpunkten
ist, jeder Grund seine GegengrĂŒnde hat, und die ganze TĂ€tigkeit auf einem
Boden ausgeĂŒbt werden muĂ, der bei jedem Druck nachgibtâ (GW 8, 1181).
Dieser Einsicht genĂŒge allein âdie Kunst des Fragmentsâ, die ihre âElastizitĂ€tâ
allerdings nur dann erhalte, âwenn sie als Kunst ausgeĂŒbt und nicht etwa als
Unvermögen erlitten wird, was allerdings die wenigsten unterscheiden kön-
nenâ (GW 8, 1181 f.).
Zur Frage des Essayismus als Lebens-, Reflexions- und Darstellungsprinzip
â nicht aber als hinreichendes Interpretament fĂŒr den gesamten Mann ohne
Eigenschaften181 â sind auch weitere Bemerkungen einschlĂ€gig, die Musil in
seinem Blei-Essay von 1918 niedergeschrieben hat. Dort betont er etwa hin-
sichtlich der antisystematischen und antiideologischen Gestalt essayistischen
Denkens, âdaĂ es eine aktive Wandelbarkeit der Anschauungen eines Essay-
isten gibt, die weder mit Fortschritt und Bekehrung zu neuen Anschauungen,
noch mit innerer Unsicherheit etwas zu tun hat, und daĂ es eine vermeintliche
Anteillosigkeit gibt, der es tatsĂ€chlich gleichgĂŒltiger sein darf, was sie liebt
oder bekĂ€mpft, als warum sie es tutâ (GW 8, 1024). Hier werden weniger ge-
wisse Maximen des Poststrukturalismus vorweggenommen, wie man vielleicht
meinen könnte182, sondern es erscheint allererst die an Nietzsches Moralkri-
tik geschulte metareflexive Seite essayistischen Denkens und Handelns : Es
geht nicht so sehr um deren Inhalt, vielmehr um das ihnen zugrunde liegende
Ethos.
Die zeittypische Dichotomisierung zwischen GefĂŒhl und Intellekt wird von
Musil nicht allein hinsichtlich des scheinbar gefĂŒhllosen Intellekts, sondern
auch hinsichtlich einer antiintellektuellen Aufwertung des scheinbar unmittel-
bareren GefĂŒhls problematisiert. Ihr gegenĂŒber betont er den âAnteilâ, âden
die GröĂe der Verstandesleistung an der GröĂe der Gesamtleistung hat, die
erst das Geistige istâ ; mit anderen Worten : â[W]enn man die autonome Stel-
lung des Essayisten nicht kennt oder nicht anerkenntâ, werde man âsein Werk
stets entweder zu theoretisch und zu wenig im GefĂŒhl verankert finden, oder
zu wenig theoretisch und zu verflatternd im GefĂŒhlâ (GW 8, 1024). Die an-
gestrebte Rehabilitation essayistischen Denkens und Schreibens befindet sich
181 Vgl. dazu die Bemerkungen im zweiten Teil der Einleitung zu vorliegender Arbeit.
182 Vgl. allerdings folgende Selbstlegitimierung am Ende der Einleitung in Foucault : ArchÀologie
des Wissens, S. 30, die inhaltlich durchaus mit Musils Essayismuskonzept kongruiert : âMan
frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben : das ist eine
Moral des Personenstandes ; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich
darum handelt, zu schreiben.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208