Page - 235 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 235 -
Text of the Page - 235 -
235Grundbegriffe
des Romankonzepts
kenntnisse fĂŒhren also dazu, in der moralischen Norm nicht lĂ€nger die Ruhe starrer
Satzungen zu sehen, sondern ein bewegliches Gleichgewicht, das in jedem Augen-
blick Leistungen zu seiner Erneuerung fordert. (MoE 252 ; vgl. MoE 1881)
Diese Stelle erinnert hinsichtlich der in ihr zitierten und verworfenen Vor-
stellung eines âgesunden Lebensâ als âMittelzustandâ zwischen zwei Krankhei-
ten an ein eindringliches Bild aus dem von Musil als âeine der reizendsten
Bereicherungenâ195 der Literatur geschĂ€tzten Roman La coscienza di Zeno
(1923) Italo Svevos.196 Die Anverwandlung und charakteristische Wendung
des Bildes vom âMittelzustandâ in das Gebiet der Ethik fĂŒhrt im Mann ohne
Eigenschaften zu einer Verbindung der âUtopie des Essayismusâ mit jener âder
induktiven Gesinnungâ.197 Sie legt eine antisystematische, essayistische âMo-
ral des nĂ€chsten Schrittsâ (MoE 733 ; vgl. MoE 735 f. u. 740) nahe198, welche
die Möglichkeit gezielter Einflussnahme im Sinne einer sozialen âHeilkunstâ in
Aussicht stellt :
Man ist bereits so nahe daran, durch bestimmte EinflĂŒsse allerhand entartete[199] Zu-
stÀnde verbauen zu können wie einen Wildbach, daà es beinahe nur noch auf eine
195 So im Brief an den Ăbersetzer Piero Rismondo, 6.2.1936 (Br 1, 705).
196 Vgl. Svevo : Zeno Cosini, S. 425 f.: âDieses Leben sieht also aus : Alle Individuen stehen in einer
Reihe Spalier, an deren einem Ende die Basedowsche Krankheit herrscht. Alle, die sich an
diesem Ende befinden, leiden an einem verschwenderischen und völlig sinnlosen Verbrauch
vitaler KrĂ€fte. [âŠ] Am anderen Ende der Reihe stehen jene Individuen, die aus Geiz einge-
schrumpft sind, und diese mĂŒssen an einer Krankheit sterben, die eigentlich wie Erschöpfung
aussieht, im Grunde aber Faulheit ist. In der Mitte der Reihe findet ein Ausgleich zwischen den
beiden Krankheiten statt : der wird fÀlschlicherweise Gesundheit genannt. Eigentlich besteht
die Gesundheit aber aus zwei Krankheiten, die einander aufheben. [âŠ] Die absolute Gesund-
heit [âŠ] gibt es innerhalb der ganzen Reihe der Menschheit nicht.â Es handelt sich hier um die
von Musil gelesene Ăbersetzung von Piero Rismondo, die 1929 im Basler Rhein-Verlag erschie-
nen war (vgl. Tb 2, 498 u. 1186) ; vgl. das italienische Original in Svevo : Romanzi e âcontinua-
zioniâ, S. 957 f. Am 6. Januar 1930 â also vor Abschluss des Ersten Buchs seines Romans â hĂ€lt
Musil im Arbeitsheft 30 fest, er habe Svevos damals gerade ins Deutsche ĂŒbersetzten Zeno âin
den letzten Tagen mit groĂem VergnĂŒgenâ gelesen (Tb 1, 694).
197 Da die âUtopie der induktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustandsâ die Ăber-
windung des Status quo schlechthin bezweckt, ist sie âin gewissem Sinne die Ă€rgste Utopieâ
und entspricht âliterarischâ dem âeinzunehmende[n] Standpunktâ, âder die beiden anderen
Utopien [des Lebens in Liebe und des anderen Zustands, N. C. W.] rechtfertigtâ, wie Musil
betont (M II/8/257).
198 Dazu und zum wissenschaftstheoretischen Kontext Feger : Die Moral des nÀchsten Schritts,
bes. S. 173 u. 176â180.
199 Wie der argumentative Kontext zeigt, verwendet Musil den problematischen Terminus gerade
nicht im Sinne einer essenzialistischen GegenĂŒberstellung von Krankheit und Gesundheit.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208