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237Grundbegriffe
des Romankonzepts
mit sehr wenig EinfÀllen aus, und gewöhnlich ist der kardinale darunter eine Ord-
nungsidee. Der gröĂere Teil der Philosophen gehört dazu. (Tb 1, 645)
In Abgrenzung von diesen deduktiv verfahrenden Philosophen bestimmt Musil
den Zugriff jener empirisch ausgerichteten Forscher, denen bewusst ist, dass
selbst âdie Naturgesetze sich, wenn man alles berĂŒcksichtigt, ebensowenig auf
den einzelnen Fall anwenden lassen wie die moralischen Gesetzeâ200. Sie ge-
hen deshalb nicht von starren âethischen SĂ€tzenâ und einer alles ĂŒberschatten-
den âOrdnungsideeâ aus, sondern bilden ihre Modelle nach den im Material
vorfindlichen Relationen, ohne aber eine rationale Denk- und Argumentati-
onsweise zu verlassen, da ihnen âdie Sittlichkeit ein in seinen Beziehungen zu
erforschender Gegenstand istâ ; es handelt sich um âSoziologenâ und âPsycho-
analytikerâ, wobei der âTypus der TĂ€tigkeit auch hier rationalâ sei (Tb 1, 645),
aber eben der Beschaffenheit des speziellen Erkenntnisobjektes entspreche.
Im Fall der Naturgesetze kann man im Allgemeinen sehr gut unterscheiden, was ein
Gesetz und was eine Ausnahme von dem Gesetz ist : Die Ausnahme wird vom Ein-
fluss anderer Gesetze geregelt, die man ebenfalls berĂŒcksichtigen muss. Aber bei Ge-
setzen wie âDu sollst nicht tötenâ, âDu sollst nicht lĂŒgenâ usw. scheint es, als ob man
ebenso gut das Gegenteil, âDu sollst tötenâ, âDu sollst lĂŒgenâ, als Gesetz akzeptieren
und die FÀlle, in denen man es nicht machen soll, als Ausnahmen ansehen könnte.
Man kann sich im GefÀngnis befinden, ebenso wohl weil man getötet hat, als weil
mich sich geweigert hat zu töten, wie z. B. im Kriegsfall.201
Daraus folgert nun Musil in seinem Fragment Die gesuchte Moral im Sinne sei-
nes historisch, soziologisch und psychologisch relationierenden essayistischen
Ansatzes : âDer Charakter irgendwie ânatĂŒrlicherâ Gesetze ist dadurch aufge-
hoben und tatsÀchlich betrachtet man moralische Satzungen besser als Tat-
sachen, die durch ganz andere, gar nicht mehr moralische, sondern entwick-
lungsgeschichtliche, soziale, psychologische usw. Gesetze zustande kommen.â
(GW 8, 1306, nach M IV/1/24)
200 So Bouveresse : Genauigkeit und Leidenschaft, S. 31 f., unter Bezug auf Musils um 1910/11
entstandenes Essayfragment Die gesuchte Moral, in dem es heiĂt : âAuch der Stein fĂ€llt nie, wie
es das Gesetz verlangt, sondern abgelenkt und in verschiedenem MaĂe verlangsamt durch Ne-
beneinflĂŒĂe, die sich in die Form konkurrierender Gesetze fassen lassen. Das einzelne Naturge-
setz wörtlich genommen ist eine Fiktion, die es nirgends gibt â aber die Tatsachen lassen sich
durch eine Kombination solcher Fiktionen erklĂ€ren und umgekehrt fĂŒhrt von den Tatsachen zu
den Fiktionen ein ziemlich eindeutig bestimmter Weg.â (GW 8, 1305 f.)
201 Bouveresse : Genauigkeit und Leidenschaft, S. 32, unter Bezug auf GW 8, 1306.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208