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238 Teil I: Grundlegung
Auf der gegenĂŒberliegenden Seite des Spektrums möglicher Haltungen
zur âFrage des rechten Lebensâ situiert Musil im Arbeitsheft 25 hingegen eine
ganz andere Gruppe von Denkern :
Typisch, nĂ€mlich als Typus verschieden davon sind die Ethiker [âŠ], die Mystiker,
die Essayisten. Sie sind typisch verschieden, nicht prinzipiell. Sie sind verwandt mit
dem Dichter. (Von Dilthey erkannt, Analyse des Menschen im 16. Jhrdt.[202]) Ihr Bei-
trag zur Ethik betrifft nicht die Form, sondern das Material. / Sie haben neue ethische
Erlebnisse. / Sie sind andere Menschen. / In ihre Reihe gehören schlieĂlich auch alle
anonymen KrÀfte, welche die Sittlichkeit wandeln. / Sie sind Lehrer des Menschen.
/ Eine Lehre des Menschen gibt es nicht. Eine Ethik. / Die Lehre liegt in subjektiven
Bindungen vor. Von zerstreuten Einzelheiten bis zu Ideologien (Pseudosystemen).
Oft nur in Tatsachen (des Lebens oder der Dichtung). Als solche wirken sie durch
Jahrtausende, also muà ihnen eine gewisse ObjektivitÀt auch zukommen. (Tb 1, 645)
Zwischen den beiden zuletzt angesprochenen Bereichen von âReligion und
Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Ge-
dichtâ liegt nun offensichtlich das Reich der âEssayisten und Meister des in-
nerlich schwebenden Lebensâ, jener âHeilige[n] mit und ohne Religionâ, die
âmanchmal [âŠ] auch einfach MĂ€nnerâ sind, welche âsich in einem Abenteuer
verirrt habenâ (MoE 253 f.) â kurz : jener âbewegtenâ und beweglichen Men-
schen, um deren Charakterisierung es Ulrich und seinem ErzÀhler im Essay-
ismus-Kapitel I/62 des Mann ohne Eigenschaften zu tun ist. Wie bereits zitiert,
zielen sie weder auf âWahrheitâ noch auf âSubjektivitĂ€tâ, sondern auf etwas,
âwas dazwischen liegtâ, und das nicht ohne Grund :
Solche Beispiele, die âdazwischenâ liegen, liefert [âŠ] jeder moralische Satz, etwa
gleich der bekannte und einfache : Du sollst nicht töten. Man sieht auf den ersten
Blick, daĂ er weder eine Wahrheit ist noch eine SubjektivitĂ€t. Man weiĂ, daĂ wir uns
in mancher Hinsicht streng an ihn halten, in anderer Hinsicht sind gewisse und sehr
zahlreiche, jedoch genau begrenzte Ausnahmen zugelassen, aber in einer sehr groĂen
Zahl von FĂ€llen dritter Art, so in der Phantasie, in den WĂŒnschen, in den Theater-
stĂŒcken oder beim GenuĂ der Zeitungsnachrichten, schweifen wir ganz ungeregelt
zwischen Abscheu und Verlockung. (MoE 254)203
202 Laut Frisés Kommentar bezieht sich Musil hier auf Diltheys Aufsatz Auffassung und Analyse der
Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (vgl. Tb 2, 457).
203 Vgl. dazu auch Die gesuchte Moral (GW 8, 1305 f.) sowie Skizze der Erkenntnis des Dichters (GW
8, 1028).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208