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243Grundbegriffe
des Romankonzepts
daĂ Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht ! Eine zur
Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vor-
schriften und GrundsÀtze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hÀngt
sie aber an denen, die sie selbst groĂ gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit
als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch RĂŒckwirkungen verĂ€ndert : das ist natĂŒrlich
verwickelter als man es in KĂŒrze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne
Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis,
ergibt es schlieĂlich ein unĂŒbersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhĂ€ngig
wie Gottes Himmel ĂŒber allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber
dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit andern Worten : alles ist moralisch, aber die
Moral selbst ist nicht moralisch ! (MoE 1024)
Der prekĂ€re Hintergrund moralischer âVorschriften und GrundsĂ€tzeâ wird
auch angesichts ihrer zweifelhaften Herkunft und herrschaftserhaltenden
Funktion deutlich, die sich âkeineswegs durch den Geistâ, sondern allein
aufgrund gesellschaftlicher âPraxisâ zu einem âunĂŒbersehbare[n] Geflechtâ
verdichten, welches jedes einzelne menschliche Leben ĂŒberspannt und
durchzieht und dem essayistischen Denken allen Anlass zu einer radikalen
Dekonstruktion an die Hand gibt.
Ein weiteres Gegenbild, von dem sich Musils Konzept des Essayismus pro-
duktiv abstoĂen kann, entwirft sein ErzĂ€hler im Blick auf die seinerzeit ĂŒbli-
che Form von Geschichtsschreibung : âWelche sonderbare Angelegenheit ist
doch Geschichte ! [âŠ] Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte,
wenn man sie in der NĂ€he betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Mo-
rast, und schlieĂlich lĂ€uft dann sonderbarerweise doch ein Weg ĂŒber sie hin,
eben jener âWeg der Geschichteâ, von dem niemand weiĂ, woher er gekom-
men ist.â (MoE 359 f.) Der angesprochene âWeg der Geschichteâ bedeutet fĂŒr
den kritischen ErzÀhler nicht nur in darstellerischer Hinsicht eine eminente
Herausforderung, worĂŒber er bzw. sein Protagonist spĂ€ter noch ausfĂŒhrlicher
reflektieren wird (vgl. MoE 650). Bereits zu einem frĂŒheren Zeitpunkt der
Geschichte (histoire) empfindet der straĂenbahnfahrende Ulrich groĂes Un-
behagen angesichts des scheinbar unabhÀngig von menschlichem Wollen und
Handeln geschehenden âSeinesgleichenâ :
Dieses Der Geschichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte. Die leucht-
ende, schaukelnde Schachtel, in der er fuhr, kam ihm wie eine Maschine vor, in der
einige hundert Kilogramm Menschen hin und her geschĂŒttelt wurden, um Zukunft
aus ihnen zu machen. Vor hundert Jahren sind sie mit Àhnlichen Gesichtern in einer
Postkutsche gesessen, und in hundert Jahren wird weiĂ Gott was mit ihnen los sein,
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208