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249Grundbegriffe
des Romankonzepts
â jegliche Kontrolle durch die Ratio und damit etwas GrundsĂ€tzliches abhan-
denkommen wĂŒrde :
Ohne Zweifel ist das, was man die höhere HumanitÀt nennt, nichts als ein Versuch,
diese beiden groĂen LebenshĂ€lften des Gleichnisses und der Wahrheit miteinander
zu verschmelzen, indem man sie zuvor vorsichtig trennt. Hat man aber an einem
Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von dem getrennt, was nur Schaum
ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit gewonnen und den ganzen Wert
des Gleichnisses zerstört ; diese Trennung mag darum in der geistigen Entwicklung
unvermeidlich gewesen sein, doch hatte sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen
und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste KrÀfte und Geister sich wÀhrend die-
ses Vorgangs als Dampfwolke davonmachen. Es lĂ€Ăt sich heute manchmal nicht der
Eindruck abweisen, daĂ die Begriffe und Regeln des moralischen Lebens nur ausge-
kochte Gleichnisse sind, um die ein unertrĂ€glich fetter KĂŒchendampf von HumanitĂ€t
wallt [âŠ]. (MoE 593 f.)
Nicht erst der zuletzt angefĂŒhrte âEindruckâ, der in mehrerer Hinsicht recht
nietzscheanisch anmutet, lĂ€sst einen Versuch geboten erscheinen, die âbei-
den groĂen LebenshĂ€lften des Gleichnisses und der Wahrheitâ auf eine Weise
âmiteinander zu verschmelzenâ, welche nicht mehr eindeutig auf Kosten der
ersten HÀlfte erfolgt und welche der manifesten affektiven ImprÀgnierung
menschlichen Denkens endlich Rechnung trÀgt224, ohne gleich wieder die an-
dere HĂ€lfte zu verraten. Dies eben meint bei Musil âEssayismusâ.
Die bisher erzielten Ergebnisse lassen sich in folgenden Feststellungen bĂŒn-
deln : Ulrichs provokative âForderungen, daĂ man Geschichte erfinden mĂŒĂte,
daĂ man Ideen-, statt Weltgeschichte leben sollte, daĂ man sich dessen, was
sich nie ganz verwirklichen lĂ€Ăt, zu bemĂ€chtigen und am Ende vielleicht so zu
leben hÀtte, als wÀre man kein Mensch, sondern bloà eine Gestalt in einem
Buch, von der alles Unwesentliche fortgelassen ist, damit sich das ĂŒbrige ma-
gisch zusammenschlieĂeâ (MoE 592), bezwecken eine Wiederaufwertung der
affektiven Komponenten menschlicher Kognition und laufen letztlich auf das
nicht nur im Rahmen eines Romans revolutionĂ€re Projekt einer âAbschaffung
der Wirklichkeitâ (vgl. MoE 289, 365, 427, 575 u. 590) hinaus. RevolutionĂ€r ist
224 Vgl. dazu Musils Ăberlegungen aus dem Entwurf I zur Utopie des motivierten Lebens aus den
dreiĂiger Jahren : Im Unterschied zur allgemeinen Auffassung, âdaĂ das GefĂŒhl eine Störung
der Wahrheit istâ, die er selber geradezu âinstinktivâ als âeinseitigâ abgelehnt habe, interessiert
er sich nicht zuletzt im Mann ohne Eigenschaften insbesondere fĂŒr jene geistigen Zusammen-
hĂ€nge, wo âman dem GefĂŒhlsanteil einen gröĂeren Wert zubilligt als dem rein intellektuellenâ
(MoE 1915).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208