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250 Teil I: Grundlegung
dieses Vorhaben insofern, als es bei aller forcierten, ja romantisch erscheinen-
den RealitÀtskritik das Ziel eines Einwirkens auf die RealitÀt niemals aufgibt225,
wie der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich betont : â[A]lles, was Ulrich im Lauf der Zeit
Essayismus und Möglichkeitssinn [âŠ] genannt hatte, [âŠ] alle diese, in ih-
rer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine
Gedanken angenommen hatten, besaĂen das Gemeinsame, daĂ sie auf die
Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaftlichkeit
einwirken wollten.â (MoE 592) Hintergrund und Voraussetzung dieses An-
sinnens ist Ulrichs bleibendes Bewusstsein von der realen Macht der sozia-
len Wirklichkeit, der nicht zu entfliehen ist : âWie mit einem Blick durch ein
rasch geöffnetes Fenster fĂŒhlte er, was ihn wirklich umgab : die Kanonen, die
GeschĂ€fte Europas.â (MoE 826) Solche vom ErzĂ€hler wiederholt konstatier-
ten nĂŒchternen und ernĂŒchternden Einsichten Ulrichs weisen diesen nicht als
wirklichkeitsflĂŒchtigen Romantiker aus, sondern als utopisch gesinnten Re-
alisten. An entscheidenden Punkten des Romanfortgangs wird die eingangs
betonte Wirklichkeitsbezogenheit der essayistischen Anstrengungen Ulrichs
stets von neuem unterstrichen, ohne deshalb diese Bezugnahme ihrer prin-
zipiell kritischen StoĂrichtung zu entkleiden : Insgesamt mindestens ebenso
sehr Heterotopie wie Utopie226, schafft der essayistische Roman âeinen illusi-
onĂ€ren Raumâ, der Foucault zufolge âden ganzen realen Raum und alle realen
Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch gröĂere
Illusion entlarvtâ227.
Den fĂŒr die Einordnung von Musils BemĂŒhungen nötigen diskurshistori-
schen Kontext seiner Ăberlegungen zum Möglichkeitssinn und Essayismus
225 Vgl. dagegen Eisele : Ulrichs Mutter ist doch ein TintenfaĂ, S. 167â169 ; Kremer : Parallelaktion,
S. 23â26.
226 Vgl. Foucault : Von anderen RĂ€umen, S. 935 : âUtopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind
Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten AnalogieverhÀltnis zum re-
alen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete Bild oder das
Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale
RĂ€ume. / Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche,
zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstel-
len, tatsÀchlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die
man in der Kultur finden kann, zugleich reprÀsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil ver-
kehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die auĂerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durch-
aus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von
denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.â
Ăhnlich in Foucault : Die Heterotopien/Der utopische Körper, S. 10, wo von âGegenrĂ€ume[n]â
die Rede ist.
227 Foucault : Von anderen RÀumen, S. 941.; vgl. ders.: Die Heterotopien/Der utopische Körper,
S. 19.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208