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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld262
mÀchtiger sein kann, solche Gedanken nicht auszusprechen, sondern sie zu
verkörpernâ (GW 8, 1301). Hierin sieht Musil das figurative Potenzial des Ro-
mans begrĂŒndet und auch dessen Existenzberechtigung gegenĂŒber der Wis-
senschaft : âDie Suggestivkraft der Handlung ist stĂ€rker als die des Gedan-
kens.â (GW 8, 1301) Diese ca. 1910 notierten Worte aus dem Essay-Fragment
Form und Inhalt sind fĂŒr Musil trotz seiner sprichwörtlichen Gedankenverliebt-
heit von geradezu existenzieller Bedeutung, weil sich in ihnen auch seine kurz
zuvor gefallene Entscheidung gegen die wissenschaftliche Laufbahn und fĂŒr
das damals weitaus riskantere Leben als Schriftsteller niederschlÀgt.
DarĂŒber hinaus haben seine Beobachtungen ĂŒber die Differenz zwischen
literarischen und wissenschaftlichen Darstellungsverfahren und ĂŒber die spezi-
fische, nicht allein begriffliche Darstellungsweise der Literatur eminente poe-
tologische Implikationen, die ebenfalls bereits kurz angesprochen wurden.3
Musil hat dafĂŒr 1918 im Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters den Begriff des
ânicht-ratioĂŻden Gebietsâ (GW 8, 1028 f.) eingefĂŒhrt ; schon im frĂŒhen Essay-
fragment Form und Inhalt wird die Dichtung genau darauf verpflichtet :
Gerade auf diese Zone ist [âŠ] der Dichter gewiesen. Das rein Intellektuelle ĂŒber-
lĂ€Ăt er dem Gelehrten, der es in die Tiefe des Engen fĂŒhrt. Selbst bei der Be-
schreibung von GegenstĂ€ndlichem zielt er auf das Emotionale. Er drĂŒckt Farben
nicht in den Mikromillimetern der WellenlÀnge aus, obgleich das viel genauer ist.
Er beschreibt nicht die VerhĂ€ltnisse eines Gesichts, sondern er sagt : es ist wie âŠ
das abc unseres Innenlebens ist begrenzt, die Kombinatorik unerschöpflich.â (GW
8, 1302)
Nach dieser (weiter oben bereits zitierten) Typologie verfĂ€hrt die fĂŒhllose
Wissenschaft quantifizierend und entindividualisierend, wĂ€hrend die âauf das
Emotionaleâ zielende Dichtung mit Vergleichen und ungewöhnlichen Kombi-
nationen eine ganz andere Wirkungsabsicht verfolgt. Zur Veranschaulichung
seiner GegenĂŒberstellung von wissenschaftlicher und poetischer Sprache fĂŒhrt
Musil die unterschiedliche Beschreibung von Farben und Gesichtern an : Die
Differenz zwischen genau bestimmbaren quantitativen VerhÀltnissen und ver-
gleichsweise ungenauen Analogiebildungen scheint dabei ausschlaggebend zu
sein.
Zu Beginn des Mann ohne Eigenschaften wird die darstellerische bzw. stilisti-
sche Relevanz des Unterschieds zwischen wissenschaftlicher und literarischer
Rede nicht nur diskursiv thematisiert, sondern jetzt auch erzÀhlerisch instru-
3 Vgl. Kap. I.2.2.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208