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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 269
fĂŒr realistische ErzĂ€hleinsĂ€tze ist die initiale Bestimmung des âChronotoposâ,
also des âgrundlegende[n] wechselseitige[n] Zusammenhang[s] der in der
Literatur kĂŒnstlerisch erfaĂten Zeit-und-Raum-Beziehungenâ26, die sich hĂ€u-
fig einer abgewandelten Form der aus dem MÀrchen hinlÀnglich bekannten
Formel âes war einmalâ bedient. Musil hat diese altehrwĂŒrdige Tradition of-
fenbar zitiert, dabei jedoch die HĂ€lfte verschwiegen, weil nur die Zeit des Ge-
schehens benannt wird, dessen Ort aber zunÀchst im Dunkeln bleibt. Ebenso
offensichtlich wie die VerstĂŒmmelung der Bezugnahme ist auch hier die ironi-
sche Brechung, merkt der ErzĂ€hler doch ausdrĂŒcklich an, dass die realistische
BeschrĂ€nkung auf âdas TatsĂ€chlicheâ âaltmodischâ sei. Der Mann ohne Eigen-
schaften beansprucht indes, ein moderner Roman zu sein, wie er an zahlrei-
chen Stellen programmatisch zu erkennen gibt. Erst nach einer Vielzahl von
anderen, zum Teil recht impressionistischen Informationen wird deshalb nur
im VorĂŒbergehen erwĂ€hnt, dass man âsich in der Reichshaupt- und Residenz-
stadt Wien befindeâ (MoE 9). Der Ort des Geschehens wird somit im Ein-
leitungskapitel zwar explizit benannt, doch nur um wenig spĂ€ter âgegen den
âNormalfallâ der modernen GroĂstadtâ27 â die im achten Kapitel beschriebene
âArt ĂŒberamerikanische Stadtâ (MoE 31) â ausgespielt und auf diese Weise in-
direkt relativiert zu werden : â[D]ie Einheit von Ort und Zeit im traditionellen
Sinnâ erscheint solcherart âgleichzeitig aufgelöst und ironisch bestĂ€tigtâ, wo-
durch Musil den unentschieden schwebenden Charakter seiner essayistischen
ErzÀhlweise einleitend exemplifiziert.28
Die spĂ€te Nennung der Ortes der ErzĂ€hlung hat darĂŒber hinaus aber li-
teraturprogrammatische GrĂŒnde, die der ErzĂ€hler nicht verschweigt : âDie
ĂberschĂ€tzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit,
wo man sich die FutterplĂ€tze merken muĂte.â (MoE 9) Mit solchen Worten
grenzt sich Musil keineswegs von einer soziologischen Situierbarkeit seines
romanesken Chronotopos ab, wie man meinen könnte â dies widersprĂ€che
nĂ€mlich eklatant seinem anthropologischen Gestaltlosigkeitstheorem29 â, son-
âArbeit am kulturellen GedĂ€chtnisâ im Sinne einer âexplizit thematisierte[n] Geschichtlichkeit
der eigenen Positionâ. Das von Musil inszenierte âZusammenspiel des Experimentellen mit dem
Traditionellenâ lasse sich âwohl kaum einsinnig als Weiterentwicklung und Innovation des vor-
gefundenen Repertoires lesenâ, sondern erweise sich als multiperspektivisches und selbstkriti-
sches kulturelles Aneignungsverfahren.
26 Bachtin : Formen der Zeit im Roman, S. 7.
27 Kremer : Die endlose Schrift, S. 440.
28 Ebd. Vgl. auch Moser : Zur Erforschung des modernen Menschen, S. 117.
29 Vgl. etwa folgende Passage aus dem Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom, aus der die
Standortgebundenheit jeder Form von (Selbst-)Erkenntnis hervorgeht : âEs zeigt sich, daĂ die
Frage des europĂ€ischen Menschen : was bin ich ? eigentlich heiĂt : wo bin ich ? Es handelt sich
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208