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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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Page - 269 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts

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„Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 269 fĂŒr realistische ErzĂ€hleinsĂ€tze ist die initiale Bestimmung des ‚Chronotopos‘, also des „grundlegende[n] wechselseitige[n] Zusammenhang[s] der in der Literatur kĂŒnstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen“26, die sich hĂ€u- fig einer abgewandelten Form der aus dem MĂ€rchen hinlĂ€nglich bekannten Formel „es war einmal“ bedient. Musil hat diese altehrwĂŒrdige Tradition of- fenbar zitiert, dabei jedoch die HĂ€lfte verschwiegen, weil nur die Zeit des Ge- schehens benannt wird, dessen Ort aber zunĂ€chst im Dunkeln bleibt. Ebenso offensichtlich wie die VerstĂŒmmelung der Bezugnahme ist auch hier die ironi- sche Brechung, merkt der ErzĂ€hler doch ausdrĂŒcklich an, dass die realistische BeschrĂ€nkung auf „das TatsĂ€chliche“ „altmodisch“ sei. Der Mann ohne Eigen- schaften beansprucht indes, ein moderner Roman zu sein, wie er an zahlrei- chen Stellen programmatisch zu erkennen gibt. Erst nach einer Vielzahl von anderen, zum Teil recht impressionistischen Informationen wird deshalb nur im VorĂŒbergehen erwĂ€hnt, dass man „sich in der Reichshaupt- und Residenz- stadt Wien befinde“ (MoE 9). Der Ort des Geschehens wird somit im Ein- leitungskapitel zwar explizit benannt, doch nur um wenig spĂ€ter „gegen den ‚Normalfall‘ der modernen Großstadt“27 – die im achten Kapitel beschriebene „Art ĂŒberamerikanische Stadt“ (MoE 31) – ausgespielt und auf diese Weise in- direkt relativiert zu werden : „[D]ie Einheit von Ort und Zeit im traditionellen Sinn“ erscheint solcherart „gleichzeitig aufgelöst und ironisch bestĂ€tigt“, wo- durch Musil den unentschieden schwebenden Charakter seiner essayistischen ErzĂ€hlweise einleitend exemplifiziert.28 Die spĂ€te Nennung der Ortes der ErzĂ€hlung hat darĂŒber hinaus aber li- teraturprogrammatische GrĂŒnde, die der ErzĂ€hler nicht verschweigt : „Die ÜberschĂ€tzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die FutterplĂ€tze merken mußte.“ (MoE 9) Mit solchen Worten grenzt sich Musil keineswegs von einer soziologischen Situierbarkeit seines romanesken Chronotopos ab, wie man meinen könnte – dies widersprĂ€che nĂ€mlich eklatant seinem anthropologischen Gestaltlosigkeitstheorem29 –, son- „Arbeit am kulturellen GedĂ€chtnis“ im Sinne einer „explizit thematisierte[n] Geschichtlichkeit der eigenen Position“. Das von Musil inszenierte „Zusammenspiel des Experimentellen mit dem Traditionellen“ lasse sich „wohl kaum einsinnig als Weiterentwicklung und Innovation des vor- gefundenen Repertoires lesen“, sondern erweise sich als multiperspektivisches und selbstkriti- sches kulturelles Aneignungsverfahren. 26 Bachtin : Formen der Zeit im Roman, S. 7. 27 Kremer : Die endlose Schrift, S. 440. 28 Ebd. Vgl. auch Moser : Zur Erforschung des modernen Menschen, S. 117. 29 Vgl. etwa folgende Passage aus dem Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom, aus der die Standortgebundenheit jeder Form von (Selbst-)Erkenntnis hervorgeht : „Es zeigt sich, daß die Frage des europĂ€ischen Menschen : was bin ich ? eigentlich heißt : wo bin ich ? Es handelt sich
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
FWF-E-Book-Library
Title
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Subtitle
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Author
Norbert Christian Wolf
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2011
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Size
15.5 x 23.0 cm
Pages
1224
Keywords
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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