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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld276
und dass sie sich âauf ihrem Platze befandenâ, dann drĂŒckt er damit nicht nur
ihre Kenntnis der eigenen personalen IdentitÀt und des eigenen sozialen Le-
bensraums aus, sondern â wiewohl auf einer weniger offensichtlichen Ebene
â auch das, was Bourdieu im Anschluss an die Befunde des amerikanischen
Soziologen Erving Goffman44 den sense of oneâs place genannt hat :
Jeder Akteur hat eine praktische, körperliche Kenntnis seiner Position im sozialen
Raum, einen sense of oneâs place [âŠ], einen Sinn fĂŒr seinen (aktuellen oder potentiellen)
Platz, einen Sinn fĂŒr die Plazierung, der sein Erleben des tatsĂ€chlich eingenommenen,
absolut und vor allem relationell als Rang definierten Platzes und die Verhaltenswei-
sen steuert, die zu dessen Erhaltung (âseinen Rang wahrenâ) und Beibehaltung (âan
seinem Platz bleibenâ) am Platze sind. Das praktische Wissen, das dieser Sinn fĂŒr die
Position verschafft, nimmt emotionale Gestalt an (das Unbehagen dessen, der sich
nicht an seinem Platz fĂŒhlt, oder die mit dem GefĂŒhl, an seinem Platz zu sein, verbun-
dene Ungezwungenheit) und kommt in Verhaltensweisen wie Ausweichen oder in
unbewuĂten praktischen Anpassungen wie der Korrektur des Akzents (in Gegenwart
eines Höhergestellten) zum Ausdruck [âŠ].45
Die Selbstdefinition der âEigenschaftâ von Personen erfolgt demnach stets in
AbhĂ€ngigkeit von der sozialen Position, die sie einnehmen â eine Einsicht, die
auch Musil nicht fremd war, wie sich im weiteren Verlauf der vorliegenden
Arbeit an seinen literarischen Figuren bestÀtigen wird. Diese AbhÀngigkeit
darf jedoch nicht im Sinne einer unmittelbaren und eindimensionalen De-
termination verstanden werden, wie Bourdieu ausdrĂŒcklich hervorhebt : âAls
praktischer Sinn ist dieser Sinn fĂŒr die aktuelle oder potentielle Plazierung
[âŠ] frei fĂŒr unterschiedliche ĂuĂerungsformen. Daher die relative Unab-
hĂ€ngigkeit der ausdrĂŒcklichen Positionierung, der ausformulierten Meinung,
gegenĂŒber der Positionâ46. Im Medium des Romans kann der in der Regel
44 Vgl. etwa das Kapitel âOrt und ortsbestimmtes Verhaltenâ in Goffman : Wir alle spielen Theater,
S. 99â128.
45 Bourdieu : Meditationen, S. 236 f.; vgl. auch Bourdieu : Sozialer Raum und symbolische Macht,
S. 141 : âDie in der eingenommenen [sozialen, N. C. W.] Position erworbenen Dispositionen im-
plizieren eine Anpassung an diese Position, das, was Goffman sense of oneâs place nannte. Es ist die-
ser sense of oneâs place, der die sogenannten âeinfachen Leuteâ dazu bringt, sich âbescheidenâ an ihren
Platz zu halten, und die anderen, âDistanz zu wahrenâ, mit den anderen ânicht gemein zu werdenâ.â
46 Bourdieu : Meditationen, S. 237. Bourdieu diskutiert in der Folge, inwiefern die apostrophierte
âUnabhĂ€ngigkeit [âŠ] der eigentlich politischen TĂ€tigkeit der Vertretung den Weg bereitet : dem
Handeln eines WortfĂŒhrers, der die unterstellte Erfahrung einer Gruppe in den Bereich der ver-
balisierten Vorstellung oder, wenn man so sagen darf, der theatralisierten Darstellung ĂŒberfĂŒhrt
und der dazu beitragen kann, daĂ sie existiert, indem er sie als etwas erscheinen lĂ€Ăt, das durch
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208