Page - 284 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 284 -
Text of the Page - 284 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld284
steht in der zumindest zurĂŒckhaltenden Anverwandlung potenziell vorhande-
ner Eigenschaften â hier hinsichtlich der technischen Moderne.62 Wie Diet-
mar Goltschnigg gezeigt hat, kann Musils ErzĂ€hlverfahren der âkonzessive[n]
Reduktion, die im syntaktischen Parallelismus durchgefĂŒhrt wirdâ, als âspezifi-
sche Ausdrucksformâ dieses Sachverhalts gelten.63 An einer der bekanntesten
Romanpassagen lÀsst sich das veranschaulichen :
Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so
vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist, gab es auch Tempo, aber nicht
zuviel Tempo. [âŠ] NatĂŒrlich rollten auf diesen StraĂen auch Automobile ; aber nicht
zuviel Automobile ! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier ; aber nicht zu
intensiv. Man lieĂ hie und da ein Schiff nach SĂŒdamerika oder Ostasien fahren ; aber
nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz ; man saĂ im
Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden ; die Worte Kolonie und
Ăbersee hörte man an wie etwas noch gĂ€nzlich Unerprobtes und Fernes. Man entfal-
tete Luxus ; aber beileibe nicht so ĂŒberfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport ; aber
nicht so nĂ€rrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen fĂŒr das Heer aus ; aber
doch nur gerade so viel, daĂ man sicher die zweitschwĂ€chste der GroĂmĂ€chte blieb.
Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern gröĂten StĂ€dte der Welt,
aber doch um ein Erkleckliches gröĂer, als es bloĂ GroĂstĂ€dte sind. (MoE 32 f.)
Die vom auktorialen, also nullfokalisierten ErzĂ€hler fĂŒr Kakanien konstatierte
abgeschwĂ€chte Form der âEigenschaftlichkeitâ steht in einem scharfen Kont-
rast zu deren forcierter AusprÀgung, die an spÀterer Stelle des Romans vom
General Stumm von Bordwehr fĂŒr das konkurrierende wilhelminische Reich
reklamiert wird, das ihm in mehrerer Hinsicht gleichsam als Hort der Mo-
derne gilt :
âIn der ganzen Welt plagen sich die Menschen, aber in Deutschland noch mehrâ sagte
er. âIn der ganzen Welt machen sie heute LĂ€rm, aber in Deutschland am meisten.
Ăberall hat das GeschĂ€ft den Zusammenhang mit der tausendjĂ€hrigen Kultur verlo-
ren, aber im Reich am Ă€rgsten. Ăberall steckt man die beste Jugend natĂŒrlich in die
62 Kakanien ist also nicht bloĂ âkontrĂ€r zu der Entwicklung moderner Staaten und StĂ€dte im
Vergangenen beheimatetâ, wie Becker : Von der âTrunksucht am TatsĂ€chlichenâ, S. 158, meint,
sondern erweist sich in seiner gebremsten Entwicklungsdynamik als Hort innerer WidersprĂŒch-
lichkeit ; es exemplifiziert damit idealtypisch die in eindimensionalen Modernisierungstheorien
oft ĂŒbersehene, fĂŒr moderne Gesellschaften aber umso charakteristischere âUngleichzeitigkeitâ.
Mehr dazu im Folgenden.
63 Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 332.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208