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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 295
denen, die schon viel hatten, weil es da keine Gefahr mehr mit sich bringt, und setzte
voraus, wenn in den andern etwas TĂŒchtiges stecke, werde es sich selbst zeigen, denn
WiderstÀnde sind geeignet, MÀnner zu erziehn. / Und so bewahrheitete es sich auch :
unter den Gegnern wurden MĂ€nner erzogen, und die Deutschen bekamen, weil Be-
sitz und Bildung [âŠ] deutsch waren, mit Staates Hilfe immer mehr Besitz und Bil-
dung. (MoE 1445, nach M I/8/5â6)
Die desintegrative Wirkung solcher scheinbar stabilisierenden Politik wird in
den zuletzt zitierten Worten offensichtlich. Entkleidet man die beschriebene
Lage der ironischen Darstellung, dann kippt sie schnell um in eine tragische
Konstellation, wie folgende bittere Diagnose Stefan Zweigs veranschaulicht,
die in auffallendem Widerspruch zu seiner harmonisierenden VerklÀrung
Wiens um 1900 steht : âAlle die unterirdischen Risse und SprĂŒnge zwischen
den Rassen und Klassen, die das Zeitalter der Konzilianz so mĂŒhsam verklei-
stert hatte, brachen auf und wurden AbgrĂŒnde und KlĂŒfte. In Wirklichkeit
hatte in jenem Jahrzehnt vor dem neuen Jahrhundert der Krieg aller gegen
alle in Ăsterreich schon begonnen.â79 Musil ist sich dieses Sachverhalts wohl
bewusst, wie die Gesamtanlage und viele einzelne ErzÀhlstrÀnge des Mann
ohne Eigenschaften belegen. Zu seiner essayistischen Reflexion im Medium
des Romans bevorzugt er indes einen ironischen und selbstreflexiven ErzÀhl-
stil, der ihm einen distanzierteren und facettenreicheren Blick auf die kon-
fliktgeladene Vorkriegsgesellschaft ermöglicht. So beruft er sich zur erzÀhle-
rischen Veranschaulichung seiner ânegativenâ Geschichtsphilosophie anhand
des Chronotopos Kakanien sogar auf eine (vermeintliche80) EigentĂŒmlichkeit
des österreichischen Sprachgebrauchs : âEs ist passiert, sagte man dort, wenn
andre Leute anderswo glaubten, es sei wunder was geschehen ; das war ein
eigenartiges, nirgendwo sonst im Deutschen oder einer andern Sprache vor-
kommendes Wort, in dessen Hauch Tatsachen und SchicksalsschlÀge so leicht
wurden wie Flaumfedern und Gedanken.â (MoE 35) Das bloĂe âPassierenâ von
Geschichte entzieht nicht nur der Vorstellung von der einfachen Umsetzbar-
keit intentional-planerischer politischer Gestaltung im Sinne der von Musil
diskutierten Psychotechnik den Boden, sondern â und das ist im gegenwĂ€r-
79 Zweig : Die Welt von Gestern, S. 84 ; vgl. dagegen die (oben zitierte) kontrÀre Charakterisierung
Wiens ebd., S. 27.
80 Duden. Das groĂe Fremdwörterbuch, S. 1023, registriert die von Musil verwendete Wortbedeu-
tung des Verbs âpassierenâ, verzeichnet aber keinen Austriazismus ; vgl. dagegen Goltschnigg :
Die Bedeutung der Formel âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 334, Anm. 26, der die österreichische
Eigenart bei der Verwendung des Verbs âpassierenâ darin ausmacht, dass ihm kein âTatbestand
zugrundeliegtâ.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208