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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 325
Es handelt sich bei Diotimas Salon um einen Ort, an dem KĂŒnstler und Wis-
senschaftler âmit gegensĂ€tzlichen Positionen im intellektuellen Feldâ sowie
Politiker, Diplomaten und Wirtschaftstreibende âsich treffen könnenâ199, was
â in Strukturanalogie zur soziologisch diagnostizierten Funktion von histori-
schen Salons200 â seine zentrale Position im zweiten Romanteil begrĂŒndet, der
bei aller lebhaften Salondiskussion ebenjenen bereits erwĂ€hnten, fĂŒr den ge-
schichtsphilosophischen Leerlauf bezeichnenden Titel trĂ€gt : âSeinesgleichen
geschiehtâ (MoE 81).201
Der literarische Experimentalcharakter des kritischen Gesellschaftsromans
resultiert aus der Interaktion sozial heterogener Romanfiguren und profitiert
generell von der âEnge des sozialen Raums, in den sie gestellt sindâ202. Diese
heuristisch fruchtbare topografische Konzentration, die in partieller Analogie
zum Strukturprinzip der von Foucault analysierten âHeterotopienâ203 sozial
unwahrscheinliche Interaktionen erst ermöglicht, ist in solcher Verdichtung
nur im Medium des Romans denkbar. Sie erscheint durch die Rolle von Di-
otimas Salon als beliebter Treffpunkt der âbesserenâ Gesellschaftsschicht zu-
sĂ€tzlich herausgestrichen : Neben KĂŒnstlern und Wissenschaftlern besteht das
distinguierte Publikum des Tuzziâschen Salons vor allem âaus Bankdirektoren,
Technikern, Politikern, MinisterialrÀten und den Damen wie Herrn der hohen
und der ihr angeschlossenen Gesellschaftâ (MoE 100). Die SalonniĂšre Diotima
â nicht von ungefĂ€hr Diplomatengattin â vermeidet Störungen der gepfleg-
ten Salonkonversation in Form heftiger Debatten und Auseinandersetzungen
allerdings geschickt durch die vorausschauende Auswahl der GÀste ; so hÀlt
199 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 26.
200 Vgl. ebd., S. 88 f.: âDie Salons bilden [âŠ], ĂŒber die vielfĂ€ltigen Formen des darin sich vollzie-
henden Austauschs, regelrechte Mittlerinstanzen zwischen den Feldern : Die Inhaber der poli-
tischen Macht wollen ihre Sicht den KĂŒnstlern aufzwingen und sich deren Konsekrations- und
Legitimationsmacht [âŠ] zu eigen machen ; die Schriftsteller und KĂŒnstler wiederum, die als
Bittsteller und FĂŒrsprecher, zuweilen sogar als regelrechte pressure group auftreten, sind darauf
aus, eine mittelbare Kontrolle ĂŒber die verschiedenen vom Staat verteilten materiellen und
symbolischen Gratifikationen zu gewinnen.â Mehr dazu sowie zur Rolle der âDamen der Aris-
tokratie und der Bourgeoisieâ ebd., S. 397.
201 Vgl. Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 224.
202 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 37.
203 Vgl. Foucault : Von anderen RĂ€umen, S. 938 : âHeterotopien besitzen die FĂ€higkeit, mehrere re-
ale RÀume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander vertrÀglich sind, an einem einzigen
Ort nebeneinander zu stellen.â Ăhnlich Foucault : Die Heterotopien/Der utopische Körper,
S. 14. Hinsichtlich ihrer sozial integrativen Funktion fĂŒr das Feld der Macht sind Salons freilich
keine Heterotopien im Sinne Foucaults, sondern stellen nach Bourdieu : Die Regeln der Kunst,
S. 396 f., âdie wichtigste Verbindungsstelle zwischen dem Macht-Feld und dem intellektuellen
Feldâ dar.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208