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331âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Dass das Konzept des Modus Operandi bzw. der âgenerativen Formelâ auch
im Ă€sthetisch-kĂŒnstlerischen Bereich sinnvoll eingesetzt werden kann, deutet
Bourdieu zumindest an, indem er im VorĂŒbergehen auf das Genre des Pasti-
che verweist, der ânicht â wie Parodie oder Karikatur â die hervorstechend-
sten Merkmale eines Stils [reproduziert], sondern den Habitusâ15. Dasselbe
gilt neben der stilistischen Gesamtheit eines Romans16 auch fĂŒr dessen ein-
zelne Figuren, wenn sie denn â in welcher Weise auch immer â eine Art Ă€s-
thetischer Identifikation bewirken. Wie bereits ausgefĂŒhrt17, stellt Musil sich
selber folgende konzeptionelle Aufgabe : Der Roman dĂŒrfe keine papierenen
Gestalten vorfĂŒhren, die bloĂ als blutleere Stellvertreter gedanklicher Kon-
zepte wirken.18 Seine Figuren mĂŒssen vielmehr mit bestimmten habituellen
Merkmalen ausgestattet werden, um erzĂ€hlerisch glaubhaft zu sein und â in
Bourdieus Worten â âzugleich als Metapher und Metonymieâ19 allgemeine-
rer sozialer VerhÀltnisse fungieren zu können. Der ErzÀhler muss ihnen also
jeweils bestimmte körperliche Merkmale, eine individuelle Herkunft und Ge-
schichte, in sich stimmige persönliche Umgangsformen, dazu passende soziale
und ökonomische Verhaltensweisen, Denkgewohnheiten, politische PrÀferen-
zen und geschmackliche Vorlieben zuordnen, damit die Leser und Leserinnen
im Prozess der LektĂŒre von diesen Daten auf die âgenerative Formelâ bzw. den
einheitsstiftenden Habitus der einzelnen Figuren schlieĂen können.
15 Ebd., S. 282, Anm. 3.
16 Vgl. dazu Bourdieu : Meditationen, S. 69 f., wo âdas Werk, wie es sich darstellt, nĂ€mlich als
totalisiertes und kanonisiertes, [âŠ] der Zeit seiner Ausarbeitung enthobenes, in alle Richtun-
gen durchforschbares opus operatumâ dem âmodus operandiâ entgegengesetzt wird, âaus dem es
hervorgehtâ, aber den es âverhĂŒlltâ. Damit werde indes âdie spezifische Logik des Erfindungs-
vorgangs verkannt, der [âŠ] nie etwas anderes ist als die Umsetzung einer Disposition des prakti-
schen Sinnsâ. Insbesondere fĂŒr die Rekonstruktion des Letzteren interessiert sich der abschlie-
Ăende Teil dieser Arbeit.
17 Vgl. oben Kap. I.2.2, Abschnitt Roman als Konstruktion.
18 Darauf lĂ€uft aber die These von Eisele : Ulrichs Mutter ist doch ein TintenfaĂ, S. 161, hinaus,
wonach âes sich beim MoE um einen ausgesprochenen Literaturroman handeltâ. Mit anderen
Worten : âDer âAnsatzâ des MoE ist nicht âgleichsam soziologischâ [so Böhme : Theoretische
Probleme, S. 194 ; N. C. W.], sondern entschieden literarisch. Den Ausschlag gibt der zugrunde
gelegte Literaturbegriff, der die romanimmanente Gesellschaft ebenso strukturiert wie die gegen
diese SozietĂ€t gerichteten AktivitĂ€ten.â (S. 163) Der zuletzt zitierte Satz kann nur unterstrichen
werden, schon weil er auf jede Gesellschaftsdarstellung im Medium des Romans zutrifft â aber
was besagt er tatsĂ€chlich ? Die von Eisele implizierte Opposition zwischen âliterarischenâ und
âsoziologischenâ Romanen scheint zumindest angesichts neuerer soziologischer AnsĂ€tze (wie
der Bourdieuâschen Feldtheorie oder auch der Systemtheorie) nicht sonderlich stichhaltig.
19 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 53 ; mehr dazu im Kap. I.1.1.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208