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340 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Er war mitunter geradezu auf seine Erscheinung wie auf einen mit billigen und nicht
ganz lauteren Mitteln arbeitenden Rivalen eifersĂŒchtig, worin Widerspruch zutage
trat, der auch in anderen vorhanden ist, die ihn nicht fĂŒhlen. Denn er war es selbst,
der diesen Körper mit athletischen Ăbungen pflegte und ihm die Gestalt, den Aus-
druck, die Handlungsbereitschaft gab, deren Wirkung nach innen nicht zu gering ist,
als daà man sie mit dem Einfluà eines ewig lÀchelnden oder eines ewig ernsten Ge-
sichtes auf die GemĂŒtsstimmung vergleichen könnte [âŠ]. DaĂ Ulrich diese Torheiten
geliebt hatte und zum Teil noch besaĂ, hinderte ihn nicht, sich in dem von ihnen
geschaffenen Körper nicht zu Hause zu fĂŒhlen. (MoE 285 f.)
Wie Ulrich offenbar weiĂ, âist der wahrgenommene Körper gesellschaftlich
zweifach determiniertâ, nĂ€mlich zunĂ€chst âgerade in dem, was das scheinbar
NatĂŒrlichste an ihm ist, sein Umfang, seine GröĂe, sein Gewicht, seine Mus-
kulaturâ ; es handelt sich dabei indes um âein gesellschaftliches Produkt [âŠ],
das durch verschiedene Vermittlungen, wie die Arbeitsbedingungen [âŠ] und
die ErnÀhrungsgewohnheiten, von seinen gesellschaftlichen Produktionsbe-
dingungen abhĂ€ngtâ.51 Die von Musils ErzĂ€hler diskutierte innerliche âNicht-
ĂŒbereinstimmungâ der Menschen mit ihrem Körper52, die bei Ulrich âdas
Scheitern psychotechnischer Praktikenâ signalisiert53, kann als dysfunktionaler
Effekt jener sozialen Inkorporierung gelten, welche als âzugleich geschlecht-
lich differenzierte und geschlechtlich differenzierende Arbeit an der Trans-
formation der Körper [âŠ] systematisch differenzierte und differenzierende
Habitusâ hervorbringt :
51 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 113 f.
52 Vgl. folgende ErgÀnzung der zitierten ErzÀhlerrefl
exion : â[M]erkwĂŒrdigerweise hat die Mehr-
zahl der Menschen entweder einen verwahrlosten, von ZufÀllen geformten und entstellten Kör-
per, der zu ihrem Geist und Wesen in fast keinen Beziehungen zu stehen scheint, oder einen
von der Maske des Sports bedeckten, die ihm das Aussehen der Stunden gibt, wo er sich auf
Urlaub von sich selbst befindet. Denn das sind die Stunden, wo der Mensch einen nachlÀssig aus
den Journalen der schönen und groĂen Welt aufgenommenen Wachtraum des Aussehenwollens
weiterspinnt. Alle diese gebrÀunten und muskulösen Tennisspieler, Reiter und Wagenlenker, die
nach höchsten Rekorden aussehen, obgleich sie gewöhnlich ihre Sache bloà gut beherrschen,
diese Damen in groĂer Kleidung oder Entkleidung sind TagestrĂ€umer und unterscheiden sich
von den gewöhnlichen WachtrÀumern nur dadurch, daà ihr Traum nicht im Gehirn bleibt, son-
dern gemeinsam in freier Luft, als ein Gebilde der Massenseele körperlich, dramatisch, man
möchte in Erinnerung an mehr als zweifelhafte okkulte PhÀnomene sagen, ideoplastisch ge-
staltet wird. Aber sie haben mit den gewöhnlichen Spinnern von Phantasien ganz und gar eine
gewisse Seichtheit ihres Traums gemeinsam, sowohl was seine NĂ€he am Erwachen angeht wie
seinen Inhalt.â (MoE 285) Vgl. dazu Kunze : Ulrich boxt, S. 81 ; Fleig : Körperkultur und Mo-
derne, S. 218 f.
53 So Kappeler : Versuche, ein Mann zu werden, S. 342.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208