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354 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
keit fĂŒhrt in der akademischen Welt gleichsam naturgemÀà zu Frustrationen,
weshalb es nicht ĂŒberrascht, dass Ulrich eines Tages aufhört, âeine Hoffnung
sein zu wollenâ (MoE 44). Er unterbricht seine UniversitĂ€tslaufbahn, in der er
auch ânach fachmĂ€nnischem Urteil gar nicht wenig geleistetâ hat (MoE 41),
und beschlieĂt, âsich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine
angemessene Anwendung seiner FĂ€higkeiten zu suchenâ (MoE 47). Das ist
die Ausgangssituation am Beginn der BasiserzÀhlung. Die fundamentalste Vor-
aussetzung fĂŒr Ulrichs nunmehr ausschlieĂlich kontemplative Haltung gegen-
ĂŒber der Welt sowie fĂŒr die âSelbstverstĂ€ndlichkeitâ, mit der er âsich in allen
Gesellschaftskreisen bewegen kannâ97, ist die schon angefĂŒhrte komfortable
Lage, in die ihn das vom Vater akkumulierte ökonomische Kapital versetzt.98
Doch wie so oft, ist dieses keineswegs grenzenlos : In einem von âschwerer
Sorgeâ um Ulrichs stagnierende âLaufbahnâ geprĂ€gten Brief weist der Vater
den Sohn darauf hin, dass âdas Vermögenâ, das er ihm und seiner Schwester
âhinterlassen werdeâ, âzwar nicht geringâ sei, âaber doch nicht so groĂ, daĂ
sein Besitz allein [âŠ] eine gesellschaftliche Position sichern könnteâ ; Ulrich
mĂŒsse sich eine solche âvielmehr selbst endlich schaffenâ (MoE 77).99 Nimmt
man mit Bourdieu an, dass soziale Vererbung nur dann von Erfolg gekrönt sein
kann, wenn das Erbe gleichsam den Erben âerbtâ, dann ist entscheidend, ob âes
dem Besitz gelingt, sich solcher Besitzer zu bemÀchtigen, die zu erben willens
und fĂ€hig sindâ100. Ulrich indes zeigt eine auffallende âAmbivalenz gegenĂŒber
seinem Erbeâ101, die offenbar in einer ausgesprochen kritischen Haltung ge-
genĂŒber dem eigenen Vater grĂŒndet, wie noch zu zeigen sein wird â und das
hat einschneidende Konsequenzen, âstellt die Identifikation mit dem Vater und
seinem âProjektââ doch âzweifellos eine der notwendigen Bedingungen fĂŒr die
97 Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 177.
98 Nach Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 233, handelt es sich bei Ulrich um
einen âidealtypische[n] Vertreter des âRentenintellektualismusâ (Alfred Weber), fĂŒr den Besitz
und Bildung in einem so unauffÀlligen, sorglos vorausgesetzten Zusammenhang stehen, daà die
âVerbindung von Geist und Reichtumâ (MoE 281) eine Bemerkung aristokratischen Unwillens
hervorruftâ.
99 Die Strategie des Vaters prĂ€sentiert sich aus dessen Perspektive â gemÀà Bourdieu : Die mĂ€nn-
liche Herrschaft, S. 129, der das VerhÀltnis zwischen Vater und Sohn in Virginia Woolfs To the
Lighthouse analysiert â als âEntscheidung fĂŒr die Geradheit, die Richtigkeit und auch fĂŒr die
wohlverstandene vÀterliche Liebe, die sich weigert, in die strÀflichen Leichtfertigkeiten einer
weiblichen und blind mĂŒtterlichen Nachsicht zu verfallen, und sich statt dessen dazu verpflich-
tet, sich zum Sprachrohr der Notwendigkeit der Welt in ihrem unerbitterlichsten Aspekt zu
machen.â
100 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 32.
101 Ebd., S. 31.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208