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355âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
gelungene Weitergabe des Erbes darâ.102 Mehr noch : âDie Identifikation mit
dem Vater und diesem Streben nach Fortdauer ist ein zentraler Vermittler beim
Eintritt in die mÀnnliche illusio, also den Glauben an die Spiele und Spielein-
sÀtze, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Universum als interessant
angesehen werden.â103 Auch darauf wird noch zurĂŒckzukommen sein.
Eingedenk dieser Sachlage und angesichts des zögerlichen Verhaltens sei-
nes Sohnes, der sich zu sehr auf die âwissenschaftliche SelbstĂ€ndigkeitâ kapri-
ziere, nimmt der Vater dessen Vereinnahmung durch das Erbe beherzt selbst
in die Hand : Er verlangt ultimativ, die in das âVorwĂ€rtskommenâ des Soh-
nes investierten âAufwendungenâ endlich âdadurch belohnt zu findenâ, dass
Ulrich die nötigen âwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungenâ
umgehend anknĂŒpfe und nicht lĂ€nger vernachlĂ€ssige (MoE 77 f.). Der wider-
strebende Sohn hat vorerst praktisch keine Chance mehr, sich den entmĂŒn-
digenden Konsequenzen der paternalistischen FĂŒrsorge zu entziehen.104 Sein
vom Vater vorgeschossenes soziales Kapital erhÀlt in diesem Augenblick eine
gleichsam schicksalhafte Funktion : Es bewirkt, dass der karrieretechnisch in-
strumentalisierte Graf Stallburg hinsichtlich Ulrichs âdes Willens [war], sich
einen guten Eindruck zu bildenâ (MoE 86), wie der ErzĂ€hler hintergrĂŒndig
102 Bourdieu : WidersprĂŒche des Erbes, S. 653.
103 Ebd., S. 652, Anm. 3.
104 Besonders deutlich zeigt sich das im Kapitel 40 des Ersten Buchs : Der in der KapitelĂŒberschrift
ausdrĂŒcklich als âFĂŒrst des Geistesâ apostrophierte Ulrich wird darin verhaftet, weil er sich fĂŒr
einen betrunkenen Arbeiter eingesetzt hat, den man der MajestÀtsbeleidigung bezichtigt. Auf
der Polizeiwache wird ihm die Ohnmacht der âinnere[n] AutoritĂ€t des Geistes [âŠ] gegenĂŒber
der Ă€uĂeren AutoritĂ€t des Wachtmeistersâ (MoE 160) exemplarisch vorgefĂŒhrt : âSeine Ar-
beiten, die ihm in der wissenschaftlichen Welt, die doch sonst fĂŒr solid gilt, Ehre eingetragen
hatten, waren in dieser Welt hier nicht vorhanden ; er wurde nicht ein einziges Mal nach ihnen
gefragt.â (MoE 159) Ulrich kann sich dieser stĂ€rkeren AutoritĂ€t nur unter Verweis auf die ex-
ponierte soziale Stellung seines Vaters entziehen, was den Widerstrebenden in der Folge direkt
in die Arme des bereits instruierten Grafen Leinsdorf â und damit der Parallelaktion â fĂŒhrt.
Die strukturelle Funktion dieser anekdotischen Verkettung von ZufÀllen besteht einerseits im
Umstand, dass der sozial distanzierte Protagonist innerlich weiterhin unkompromittiert bleibt,
denn er hat sich nicht freiwillig in die Arme der Parallelaktion begeben. Andererseits wird je-
doch die relative Wertlosigkeit seines kulturellen Kapitals (vgl. auch MoE 84) veranschaulicht :
Der zunÀchst vollkommen ohnmÀchtige Ulrich profitiert zuletzt allein von seinem sozialen
Kapital (vgl. Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 232), das sich solcherart wie
das ökonomische Kapital als implizite Voraussetzung seiner nicht nur intellektuellen Freiheit
erweist. An diesem Beispiel zeigt sich auĂerdem, dass die in der Musil-Forschung mittlerweile
beliebte systemtheoretische Formel vom âErsatz stratifikatorischer Differenzierung [âŠ] durch
funktionale ZusammenhĂ€ngeâ (Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 157 u. passim) in
Musils erzĂ€hlter Welt zu kurz greift ; mehr dazu unten im Zusammenhang der Ăberlegungen
zu Leinsdorf.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208