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357âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
aussetzungslose soziale âOrtlosigkeitâ mĂŒndet. Der Roman zeigt vielmehr eine
wesentlich modernere und effektivere, weil unsichtbare Form familiÀren Erbes
mittels des sozialen Kapitals.107 Die durchaus stattfindende MachtĂŒbertragung
ist hier sublimiert, weil sie nicht direkt ĂŒber institutionalisierte FamilienbĂŒnd-
nisse in Form von EheschlieĂungen oder Ăhnlichem vollzogen wird, sondern
indirekt ĂŒber informelle KanĂ€le verlĂ€uft und mangels formeller Institutiona-
lisierung wesentlich âlegitimerâ zu sein scheint. Gerade die nur scheinbare
soziale âOrtlosigkeitâ108 Ulrichs kennzeichnet ihn als Sohn des BĂŒrgertums,
das der neuen Zeit entsprechend avancierte Formen der Legitimation sozi-
aler Vererbung hervorbringt, in denen die scheinbar entmachtete Familie bei
der Reproduktion von Macht umso mehr eine Rolle spielt, als sie dies durch
Informalisierungen verschleiert. Langfristig wirksame, auch ökonomisch ren-
table Dividenden aus Ulrichs sozialem Erbe sind somit zumindest prinzipiell
ermöglicht. Auf diese Weise vermag es der nicht nur diskursiv, sondern auch
figurativ verfahrende essayistische Roman, gesellschaftlich innovative Legiti-
mationsformen, die der zeitgenössischen Theoriebildung in dieser Form noch
nicht zugÀnglich sind, anschaulich zu thematisieren.
Vor dem Hintergrund der Sozialisation Ulrichs wird es kaum ĂŒberraschen,
dass er âsich keiner Zeit seines Lebens erinnern [konnte], die nicht von dem
Willen beseelt gewesen wĂ€re, ein bedeutender Mensch zu werdenâ ; dem Er-
zÀhler zufolge hat er diesen Ehrgeiz nachgerade verinnerlicht und solcherart
zum Bestandteil seiner habituellen Struktur gemacht : â[M]it diesem Wunsch
schien Ulrich geboren worden zu sein.â (MoE 35) Doch ist es von einem
derartigen Wunsch noch ein weiter Weg zu dessen Realisierung, und auch
das erzÀhlte Leben verlÀuft nicht immer so glatt, wie man es sich vorstellt
â zumal, wenn einem der eigene Habitus im Weg steht. Bereits als jugendli-
cher SchĂŒler der Theresianischen Ritterakademie hat Ulrich einen schweren
Fauxpas begangen, der auf eine frĂŒhe Entwicklung seiner intellektuellen Dis-
position schlieĂen lĂ€sst : Ohne provokative Absicht relativierte er in einem
107 Er exemplifi
ziert damit den von der Soziologie beschriebenen Strukturwandel der Herrschafts-
formen in der Moderne : âDie ĂŒber das Bildungswesen als unabhĂ€ngige Instanz vermittelte
Reproduktion verhÀlt sich zur unmittelbaren Reproduktion der Familie wie die strukturelle
Herrschaft zur personalen.â (Ebd., S. 44)
108 Aus ganz anderer â nĂ€mlich narratologischer â Perspektive und anhand anderer Beispiele zeigt
auch Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 141, âdass Ulrich nicht der autarke, ĂŒberhebli-
che AuĂenseiter ist, als den er sich selber gerne sieht. Ulrich verfĂŒgt nicht ohne weiteres ĂŒber
die ExterritorialitÀt, die dem Roman hÀufig unterstellt wird, sondern er ist eine vom ErzÀhler
zugesetzte [?] und ironisierte Figur, die in den Sog des mainstream gerĂ€tâ. Die im zuletzt zitier-
ten Halbsatz gemachte Behauptung wÀre freilich noch zu differenzieren.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208