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363âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
zwang, sondern ebenso an die frĂŒhe Kenntnisnahme sozialer Unterschiede
in Familie und Schule sowie an die zunÀchst in Kakanien und spÀter auch in
Belgien gemachte Erfahrung kultureller und nationaler Differenz. Die Sicher-
heit, um das eigene Fortkommen nicht ernstlich bangen zu mĂŒssen, befördert
mit der âlibido sciendiâ122 und âder seelischen Beweglichkeitâ auch âeine ge-
wisse Angriffslustâ sowie âeine gewisse Bereitschaft zur Verneinungâ (MoE
151) â nach Nietzsche ĂŒbrigens allesamt Attribute der StĂ€rke.123 FĂŒr die durch
seine Sozialisation habitualisierte ReflexivitÀt und intellektuelle AggressivitÀt
bestehen im weiteren Verlauf der erzÀhlten Geschichte ausreichend AnlÀsse,
Gelegenheit und Zeit. Ulrichs Neigung zur Kontemplation und zur ironischen
Infragestellung des Bestehenden ist in soziologischer Hinsicht genauso cha-
rakteristisch fĂŒr die gesteigerte geistige FlexibilitĂ€t der zweiten Generation,
wie seine spezifisch âessayistischeâ Haltung zur Welt ein Musterbeispiel fĂŒr ihr
kreatives Potenzial abgibt.
Nach dem Scheitern seiner oben erwĂ€hnten âdrei Versucheâ, âein bedeu-
tender Mann zu werdenâ (MoE 35), nimmt Ulrich Abstand vom Streben nach
âheroischen Tatenâ, was aber keineswegs aus einer neuentdeckten Liebe fĂŒr
âdas bĂŒrgerliche Lebenâ resultiert, sondern âim Gegenteilâ aus einer reflexiven
Wendung gegen ebenjene einst von ihm selbst gehegten individualistischen
âNeigungenâ (MoE 13). In Einklang mit dieser Abkehr vom heroischen In-
dividualismus bestĂ€tigt die nach langen, aber letztlich leerlaufenden âĂberle-
gungenâ nicht von Ulrich selbst, sondern vom âGenie seiner Lieferantenâ ge-
troffene Entscheidung ĂŒber âdie Einrichtung seines Hausesâ, die ihrerseits ein
Vermögen voraussetzt, seine nunmehr distanzierte Haltung selbst gegenĂŒber
seinem privatesten Lebensbereich : âAls alles fertig war, durfte er den Kopf
schĂŒtteln und sich fragen : dies ist also das Leben, das meines werden soll ?â
(MoE 21) Ulrich erweist sich hier im eigentlichen Wortsinn als Mann ohne
Eigenschaften, indem Musil seine Figur eine radikale Konsequenz aus dem
von ihm selber vertretenen Gestaltlosigkeitstheorem ziehen lÀsst, wonach der
âMensch [âŠ] nur in Formen [existiert], die ihm von auĂen geliefert werdenâ
(GW 8, 1370). Das bedeutet aber nicht, dass der Protagonist zu einem blo-
Ăen Spielball Ă€uĂerer VerhĂ€ltnisse geriete. Im Gegenteil : Gegen den Druck
der Ă€uĂeren Determinanten und Konventionen lehnt sich der unheroische
Musilâsche Held an vielen Stellen des Romans auf durchaus heroische Weise
auf und bestĂ€tigt somit seine eigene â insofern selbstreferenzielle â Aussage :
122 Neben Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 100, und ders.: Meditationen, S. 20 u. 142, vgl.
v. a. ders.: Ăkonomisches Kapital â Kulturelles Kapital â Soziales Kapital, S. 55.
123 Vgl. Nietzsche : Ecce homo, S. 274 u. 344 f.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208