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368 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
hĂ€ltnisse Ă€ndernâ139, trifft Ulrich angesichts prinzipiell unattraktiver Alternati-
ven zunÀchst gar keine Entscheidung.
Wie deutlich geworden sein sollte, manifestiert sich im produktiven âMög-
lichkeitssinnâ â geprĂ€gt durch âeinen Bauwillen und bewuĂten Utopismus, der
die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behan-
deltâ (MoE 16) â Ulrichs reflexive Distanz zu den sozialen Gegebenheiten und
ZwÀngen. Er strÀubt sich vehement dagegen,
an einem der gesellschaftlich anerkannten sozialen Spiele teilzunehmen und jene
gleichermaĂen ökonomisch wie psychologisch zu verstehende PrimĂ€rinvestition, jene
Initialbesetzung zu vollziehen, die bei jeder Teilnahme an einem ernsthaften Spiel vor-
ausgesetzt ist. Dieser Glaube an das Spiel, an den Wert des Spiels als solchen, und an
das, worum es darin geht, bekundet sich [âŠ] nicht zuletzt im Ernst und in der Ernst-
haftigkeit, das heiĂt dem Hang, alle gesellschaftlich als ernst bezeichneten Dinge und
Menschen, angefangen bei einem selber, ernst zu nehmen â diese und nur diese.140
Ulrichs fehlender Ernst, den er durchaus auch auf sich selbst bezieht, markiert
einen weiteren habituellen Unterschied zu seinem Vater, denn âSe. Exzellenz,
der Wirkliche Geheime Rat, scherzte nie in ernsten Augenblickenâ (MoE
672). Der Sohn dagegen benimmt sich selbst in der fĂŒr ihn âklĂ€gliche[n] Lageâ
nach der unfreiwilligen Teilnahme an einer StraĂenschlĂ€gerei so spielverder-
berisch gegenĂŒber der Wirklichkeit, dass es seiner Retterin Bonadea schon
bei ihrer ersten Begegnung mit Ulrich âschwerâ fĂ€llt, âzu unterscheiden, ob er
ernst spreche oder spotteâ (MoE 29). Folgt man den vom ErzĂ€hler in ande-
rem Zusammenhang angestellten, gleichsam rollensoziologischen Ăberlegun-
gen141, dann ist in Ulrichs Habitus jener zehnte soziale âCharakterâ besonders
ausgebildet, der gegenĂŒber den anderen âneun Charaktere[n]â der Bewohner
Kakaniens142 als âpassive Phantasie unausgefĂŒllter RĂ€umeâ umschrieben wird ;
dieser âCharakterâ, der sich des Möglichkeitssinns bedient und deshalb mit
dem essayistischen Vermögen gleichgesetzt werden könnte, âgestattet dem
Menschen alles, nur nicht das eine : das ernst zu nehmen, was seine mindes-
tens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht ; also mit an-
dern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfĂŒllen sollteâ (MoE 34). Der wirk-
139 Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 237, Anm. 14.
140 So Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 34 f., mit Blick auf Flauberts Romanfigur Martinon.
141 Vgl. Kap. I.3.1.
142 Zur Erinnerung : Musil nennt âeinen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-,
einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewuĂten, einen unbewuĂten und vielleicht
auch noch einen privaten Charakterâ (MoE 34).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208