Page - 369 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 369 -
Text of the Page - 369 -
369âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
lichkeitskritische Aspekt dieser Gedankenfigur, die den Unernst gegenĂŒber
den etablierten sozialen Rollen zur produktiven GröĂe erhebt, wird auch vom
reflektierenden ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich vertreten : Ihm zufolge steht âdie Wirk-
lichkeitâ in dem vom âzehnten Charakterâ erschlossenen gedanklichen Raum
âwie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadtâ (MoE 34).
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Romanfiguren sind hier nur
gradueller Natur. Angesichts der Tatsache, dass selbst âder brave, praktische
Wirklichkeitsmensch die Wirklichkeit nirgends restlos liebt und ernst nimmtâ
(MoE 138), erweist sich Ulrichs systematische Pflege des wirklichkeitskriti-
schen Unernstes als Radikalisierung einer in allen Figuren angelegten, gleich-
sam anthropologischen Disposition.
Mit der gesellschaftlichen Akzeptanz einer solchen Haltung verhÀlt es sich
freilich entschieden schwieriger als mit dem EinverstÀndnis des ErzÀhlers,
was Ulrich wiederholt erfahren muss : Nicht nur beim Vater gereicht ihm sein
Unernst zum Vorwurf, sondern auch bei Diotima, die ebenfalls bereits beim
ersten Treffen der beiden seine âParadoxeâ als âunreifâ empfindet und deshalb
sogleich das âBedĂŒrfnisâ verspĂŒrt, âihren Verwandten auf den Ernst der Wirk-
lichkeit hinzuweisenâ (MoE 94). Hier offenbart sich die soziale Funktion der
habituellen Ernsthaftigkeit, jener âgesellschaftliche[n] Form des IdentitĂ€tsprin-
zips, die allein die unzweideutige soziale IdentitĂ€t zu begrĂŒnden vermagâ143.
Im Gegensatz zu Ulrich, dem sie immer wieder vorhĂ€lt, âselten etwas ernst
[zu] meinenâ (MoE 287), identifiziert sich Diotima rest- und distanzlos mit
dem, was sie ist, und sie tut mit der gröĂten Hingabe das, was ihr dem Rol-
lenbild der schöngeistigen Diplomatengattin gemÀà zu tun ĂŒbrig bleibt. Sie
besitzt insofern âEigenschaftenâ und stellt diese auch ostentativ aus. WĂ€hrend
die arrivierte Cousine als soziale Aufsteigerin die bestehende Wirklichkeit
nachgerade hypostasiert, profiliert der ErzÀhler Ulrichs experimentelles Welt-
verhÀltnis (vgl. MoE 152), seinen (deutlich an Ernst Mach geschulten) skepti-
schen Relationismus und seine radikale Ablehnung fester Ordnungen und mit
sich identischer EntitÀten (vgl. MoE 153 f.) als streng gegenlÀufige, wirklich-
keitskritische Haltung, die nicht nur dem âErnst eines mit ungeheurer Wich-
tigkeit brĂŒllenden Kindesâ (MoE 59) grundsĂ€tzlich ironisch begegnet, sondern
auch vor dem Denken selbst nicht haltmacht : âDu nimmst das Denken viel
zu ernstâ, hĂ€lt er dem an der kakanischen Geistesverwirrung verzweifelnden
General Stumm entgegen, der sich daran abmĂŒht, âeinen festgegliederten
Operationsraum zu gewinnenâ, denn : â[M]an darf das Denken nicht so ernst
nehmen, wie du es augenblicklich tust.â (MoE 375)
143 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 33.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208