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381âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Als kennzeichnend fĂŒr Walters Lebenslauf nennt der ErzĂ€hler die auĂeror-
dentliche FĂ€higkeit, sich nicht allein auf die Protektion des Vaters zu verlassen,
sondern selbst soziales Kapital zu akkumulieren, das er in der Folge offenbar
geschickt in zumindest kleine Verdienstmöglichkeiten umzuwandeln versteht.
Durch diese soziale Kompetenz hebt er sich ganz augenfÀllig von Ulrich ab,
dessen Bestrebungen sich kompromisslos auf den Erwerb kulturellen Kapitals
konzentrieren. Die sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Walters bo-
hemienhaftem Lebenslauf werden in der zitierten Passage explizit auch mit
seiner Erscheinung in Verbindung gebracht : âIrgendetwas schwebte ĂŒber ihm,
das mehr zu bedeuten schien als eine bestimmte Leistung.â (MoE 51) Es ist
ein ganz spezifischer Habitus, der Walters einnehmende Art mit einer Aura
von Bedeutsamkeit verbindet, die ihn stets umgibt und die seine bereits er-
wÀhnte angenehme Ausstrahlung auf das Vorteilhafteste ergÀnzt. So berichtet
der ErzĂ€hler durchaus nicht ohne eine gewisse Anerkennung, dass âWalter
den Menschen dazu verhalf, sich aus GrĂŒnden, die ihnen bisher entgangen
waren, sehr wichtig vorzukommen. Mit dieser Eigenschaft, geistige Selbstbe-
schÀftigung zu verbreiten, hatte er auch Clarisse erobert und mit der Zeit alle
Mitbewerber aus dem Feld geschlagenâ (MoE 60 f.).
Bei der Beschreibung des sozial Ă€uĂerst gewinnbringenden Vermögens,
einen starken Eindruck von Bedeutsamkeit nicht nur der eigenen Person,
sondern auch seines GegenĂŒbers zu vermitteln, das Walters persönlichen Stil
maĂgeblich prĂ€gt, ist â abgesehen von der Ăberschrift des 17. Kapitels â in
seinem Zusammenhang zum ersten Mal von âEigenschaftâ die Rede. Wal-
ter selbst begreift sich durchaus als einen Mann mit Eigenschaften.161 Der
Umstand, dass das bei Musil essenzialistisch konnotierte Wort in diesem Zu-
sammenhang jedoch kein bestimmtes âSeinâ bezeichnet, sondern einen cha-
rakteristischen Schein, verrÀt eminente erzÀhlerische Ironie. Diese wird auch
hinsichtlich Walters erwĂ€hnter âBegabungâ offensichtlich, âfĂŒr eine groĂe Be-
gabung zu geltenâ : â[W]enn das Dilettantismus sein sollte, dann beruht das
Geistesleben der deutschen Nation zu einem groĂen Teil auf Dilettantismus,
denn diese Begabung gibt es in allen Abstufungen, bis zu den wirklich sehr
begabten Menschen hinauf, denn erst bei diesen dĂŒrfte sie allem Anschein
nach gewöhnlich fehlen.â (MoE 51) TatsĂ€chlich scheint das âGeisteslebenâ
einer âNationâ â nicht nur der âdeutschenâ â âzu einem groĂen Teil auf Dilet-
tantismusâ zu beruhen, wenn man die strengen MaĂstĂ€be Musils anlegt. Der
hier uneigentlich formulierende ErzÀhler verfolgt mit seinen Worten freilich
eine doppelte Strategie, lÀsst er durch sie doch den um soziale Verpflichtungen
161 Vgl. auch Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 78.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208