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390 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
schendurchschnitt an Durchschnittlichkeit noch zu ĂŒbertreffen, unerachtet des Wi-
derspruchs, der gerade in diesem Verlangen liegt. (MoE 608)
Walters spezifische Ausdrucksform des vom spÀten Nietzsche als antiidealis-
tisch gefeierten Amor Fati172 prÀsentiert sich in Abweichung von seinem im-
pliziten Vorbild gleichsam als Inversion des essayistischen âMöglichkeitssinnsâ,
nÀmlich als Resignation in sein unentrinnbar wirkendes soziales Schicksal.173
Sogar in seinen eigenartigen SelbstentmÀchtigungs- und Selbstnivellierungs-
phantasien erweist er sich als unscharfer Denker, der stets an seinem egoisti-
schen Begehren nach einer herausgehobenen Sonderstellung festhÀlt.174 Die
ersehnte Depotenzierung seines Ichs ist nicht wie bei Ulrichs programmati-
scher Positivierung der âEigenschaftslosigkeitâ das Resultat einer selbst- und
subjektkritischen Reflexion, sondern nur die Kehrseite maĂloser SelbstĂŒber-
schÀtzung, die von der Erfahrung der eigenen Insuffizienz in keiner Weise
angefochten wird. Noch in den spÀten Passagen des Ersten Buchs hÀlt sich
Walter zugute : â[W]enn sich irgendwer eine einsame IndividualitĂ€t nennen
durfte, so meinte er das selbst zu sein, und doch hatte er das aufgegeben, um
zur natĂŒrlichen menschlichen Aufgabe zurĂŒckzudenken, und fĂŒhlte sich sei-
nem Freund darin um ein ganzes Zeitalter voraus.â (MoE 610) Indem er sich
selber am ehesten âeine einsame IndividualitĂ€tâ zubilligt und damit das eigene
Ich hypostasiert, legt er just im Augenblick seiner Abwendung vom Geniekult
der Jugend einen ungebrochenen Glauben an die menschliche âEigenschaft-
lichkeitâ an den Tag. Er profiliert sich somit romanstrukturell als wichtiger
Antipode Ulrichs, dessen selbstbewusste âEigenschaftslosigkeitâ ja gerade aus
172 Vgl. Nietzsche : Ecce homo, S. 297.
173 Vgl. dazu aus soziologischer Perspektive Bourdieu : Meditationen, S. 183 u. 187 ; ders.: Staats-
adel, S. 116, Anm. 25 ; ders.: Die mÀnnliche Herrschaft, S. 69.
174 Vgl. dagegen Ulrichs selbstironische Refl exion im nachgelassenen Fortsetzungskapitel âWan-
del unter Menschenâ : âEr wollte nicht von der Welt verlangen, daĂ sie ein Lustgarten des
Genies sei. Ihre Geschichte ist nur in den Spitzen, wenn nicht AuswĂŒchsen, eine des Genies
und seiner Werke ; in der Hauptsache ist sie die des Durchschnittsmenschen. [âŠ] [M]ag es
sogar gewiĂ sein, daĂ die menschliche Geschichte nicht gerade ihre AufschwĂŒnge vom Durch-
schnittsmenschen empfĂ€ngt ; alles in allem genommen [âŠ] ist sie eben doch eine Geschichte
der Millionen Antriebe und WiderstĂ€nde, Eigenschaften, EntschlĂŒsse, Einrichtungen, Leiden-
schaften, Erkenntnisse und IrrtĂŒmer, die er von allen Seiten empfĂ€ngt und nach jeder verteilt.
In ihm und ihr mischen sich die gleichen Elemente ; und auf diese Art ist sie jedenfalls eine
Geschichte des Durchschnitts oder, je nachdem man es nehmen mag, der Durchschnitt von
Millionen Geschichten, und wenn sie denn auch ewig um das MittelmĂ€Ăige schwanken mĂŒĂte,
was könnte am Ende unsinniger sein, als einem Durchschnitt seine Durchschnittlichkeit zu
verĂŒbeln !â (MoE 1206) Mehr zu dieser Stelle bei Moser : Zwischen Wissenschaft und Literatur,
S. 184
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208