Page - 394 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 394 -
Text of the Page - 394 -
394 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Ulrich. Seine problematische Sozialisation schildert eine externe Analepse186
des ErzĂ€hlers in Ăbereinstimmung mit Musils biografischer Vorlage187 nach
dem etablierten Muster gesellschaftskritischer Literatur, die im deutschspra-
chigen Raum traditionell lÀndliche oder kleinstÀdtische Szenerien bevorzugt ;
die Kleinheit des Herkunftsorts ist dabei Chiffre fĂŒr soziale RandstĂ€ndigkeit :
âMoosbrugger war als Junge ein armer Teufel gewesen, ein HĂŒterbub in einer
Gemeinde, die so klein war, daĂ sie nicht einmal eine DorfstraĂe hatteâ (MoE
69). Die drastisch gezeichnete drĂŒckende Armut des Heranwachsenden wirkt
sich der auktorialen Darstellung zufolge â wie schon in Karl Philipp Moritzens
psychologischem Roman Anton Reiser188 â negativ auf die Möglichkeit von
Sozialkontakten aus : âMoosbrugger war nur ein Zimmermannsgeselle, ein
ganz einsamer Mensch, und obgleich er auf allen PlÀtzen, wo er arbeitete, von
den Kameraden gut gelitten war, hatte er keinen Freund.â (MoE 71) Roman-
strukturell spiegelt sich die Einsamkeit Moosbruggers in seiner innerromanes-
ken Beziehungslosigkeit, die ihn von allen anderen Figuren unterscheidet.189
Besonders defizitĂ€r ist auf dieser prekĂ€ren Basis der Kontakt zum âanderenâ
Geschlecht, wie Musils ErzĂ€hler in Ăbereinstimmung mit jenem narrativen
Muster problematischer Sozialisation bemerkt, das etwa in Marie von Ebner-
Eschenbachs realistischer ErzÀhlung Das Gemeindekind190 exponiert worden
ist : â[E]r war so arm, daĂ er niemals mit einem MĂ€del sprach.â (MoE 69)
Damit werden gleich zu Beginn des Moosbrugger-Komplexes die fĂŒr diesen
nicht unerheblichen zwischengeschlechtlichen Beziehungen sowie eine Ursa-
che fĂŒr deren Störung benannt. Aufgrund seiner marginalen sozialen Position
186 Vgl. Genette : Die ErzĂ€hlung, S. 32, wonach darunter eine âAnalepseâ verstanden wird, âdie
ihrem ganzen Umfang nach der BasiserzĂ€hlung Ă€uĂerlich bleibtâ.
187 Zu den biografischen bzw. zeithistorischen HintergrĂŒnden vgl. Corino : Ein Mörder macht
Literaturgeschichte ; grundlegend korrigiert in : Corino : ZerstĂŒckelt und durchdunkelt ; Corino :
Musil [1988], S. 358â360 ; Corino : Musil [2003], S. 880â891.
188 Vgl. Moritz : Anton Reiser, S. 14 : âEr fĂŒhlte auf das innigste das BedĂŒrfnis der Freundschaft von
seinesgleichen : und oft, wenn er einen Knaben von seinem Alter sahe, hing seine ganze Seele
an ihm, und er hÀtte alles drum gegeben, sein Freund zu werden ; allein das niederschlagende
GefĂŒhl der Verachtung, die er von seinen Eltern erlitten, und die Scham, wegen seiner arm-
seligen, schmutzigen, und zerriĂnen Kleidung hielten ihn zurĂŒck, daĂ er es nicht wagte, einen
glĂŒcklichern Knaben anzureden. / So ging er fast immer traurig und einsam umher, weil die
meisten Knaben in der Nachbarschaft ordentlicher, reinlicher, und besser, wie er, gekleidet
waren, und nicht mit ihm umgehen wolltenâ.
189 Abgesehen von einer leerlaufenden Prolepse ĂŒber die spĂ€tere Bekanntschaft mit Ulrich (vgl.
MoE 69) begegnet ihm nur Clarisse in einem nachgelassenen Kapitelentwurf persönlich (vgl.
MoE 1357â1371). Insofern kann es auch in Kap. II.3 keinen Abschnitt geben, der Moosbrug-
gers Interaktionen behandelt.
190 Vgl. Ebner-Eschenbach : Das Gemeindekind, S. 17â19 u. 25â28.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208