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395âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
macht der spÀtere Frauenmörder als Kind und Jugendlicher nur höchst defizi-
tÀre Erfahrungen mit MÀdchen und Frauen, nach denen er gleichwohl ein nie
nachlassendes Begehren verspĂŒrt :
Er konnte MÀdels immer nur sehn ; auch spÀter in der Lehre und dann gar auf den
Wanderungen. Nun braucht man sich ja bloĂ vorzustellen, was das heiĂt. Etwas, wo-
nach man so natĂŒrlich begehrt wie nach Brot oder Wasser, darf man immer nur sehn.
Man begehrt es nach einiger Zeit unnatĂŒrlich. Es geht vorĂŒber, die Röcke schwanken
um seine Waden. Es steigt ĂŒber einen Zaun und wird bis zum Knie sichtbar. Man
blickt ihm in die Augen, und sie werden undurchsichtig. Man hört es lachen, dreht
sich rasch um und sieht in ein Gesicht, das so reglos rund wie ein Erdloch ist, in das
eben eine Maus schlĂŒpfte. (MoE 69)
Musil setzt ein komplexes ErzĂ€hlverfahren ins Werk, das mit der Ăbereinan-
derblendung mehrerer Perspektiven arbeitet : Die Blickwinkel des ErzÀhlers,
des zeitgenössischen Zeitungslesers im Allgemeinen, Ulrichs im Besonderen
oder Moosbruggers selbst sind oft nicht eindeutig voneinander zu unterschei-
den. Dadurch setzt er sich augenfÀllig von den expressionistischen Wahn-
sinnsdarstellungen Georg Heyms, Alfred Döblins und Gottfried Benns ab, die
in der Regel auf die subjektive Innenperspektive eines latent oder manifest
psychopathologischen Helden fokussieren191, diese absolut setzen und zudem
mit einer antipsychologischen oder sogar antiwissenschaftlichen StoĂrichtung
verbinden.192 Musils ErzÀhlverfahren hingegen erinnert eher an jenes von
BĂŒchners unvollendeter Novelle Lenz, die durch eine âdoppelte ErzĂ€hlsitu-
ationâ gekennzeichnet ist, welche zwischen personaler und szenischer Dar-
stellung changiert, sowie durch die Verwendung unpersönlicher Satzkonst-
ruktionen und die Bevorzugung von abstrakten Bezeichnungen anstelle von
konkreten.193 Die seinerzeit avancierte narrative Technik BĂŒchners wird in der
Moosbrugger-Episode des Mann ohne Eigenschaften freilich durch die tenden-
191 Zum Verzicht Döblins auf âauktoriale Rahmung bei der Beschreibung abnormer Figurenâ vgl.
die kursorische Bemerkung in Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 133.
192 So etwa Heym ; vgl. dazu Sulzgruber : Georg Heym âDer Irreâ, S. 60â68.
193 Vgl. Pascal : BĂŒchnerâs Lenz â Style and Message, passim, bes. S. 73 u. 83 : âThe two perspec-
tives, the authorâs and Lenzâs, are not rigidly separate, mechanical alternatives, but often are
almost indistinguishably mingled, with the result that as we read we do not laboriously switch
our perspective from time to time, but have both continously at the ready.â (S. 83) Pascal
spricht deshalb ebd. von einem âcomplex mode of mental experience, in which we are at the
same time both within und outside another personâ, was dazu fĂŒhre, dass âthe two attitudes of
imaginative participation and observation are fused with unforced easeâ.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208